Urod - Die Quelle (German Edition)
seine Ohren allerdings von Miles kontrollieren, der die Pfropfen fest in Sebastians Ohr drückte, woraufhin die Welt um ihn herum auf einmal verstummte.
Dann schnappten sich alle die Waffen und ein paar angespitzte Holzstangen, die Drago in ordentliche Pflöcke verwandelt hatte und gingen nach draußen, um die Glocken zu verteilen. Jeder sollte sich zwei davon an den Gürtel hängen. Falls einer der Pfropfen herausfiel, konnten sie sich wenigstens auf diese Art schützen.
Die Sonne tauchte das Camp jetzt in ihr grelles Licht und zeigte das ganze Ausmaß der Verwüstung. Weite Teile des Lagers bestanden lediglich aus morastigem Schlamm, sodass es aussah wie nach einer Schneeschmelze und nicht wie mitten im Hochsommer. Doch die kleine Gruppe hatte keine Muße, sich umzusehen. Sie musste etwas erledigen, das keinen Aufschub duldete. Miles wies auf eine der zahlreichen Pfützen, die sich überall im Camp gebildet hatten. Das Wasser darin kräuselte sich und bildete eigenartige Muster, wie das Kardiogramm eines Menschen, dessen Herz vollkommen außer Kontrolle geraten ist. Als tanze es nach einer ganz bestimmten, exotischen Musik. So konnten sie das Geräusch zwar nicht hören, aber sehen. Und es ließ sie erschauern, wie heftig allein das Wasser darauf reagierte. Wie es sich bereitwillig davon führen und verändern ließ. So bekamen sie eine ungefähre Ahnung davon, welch gewaltige Macht es haben musste.
Miles stellte sich neben eine der Pfützen und bimmelte ganz leise mit seiner Glocke. Das Geläut selber konnten die anderen nicht hören, aber sie konnten beobachten, wie die Muster, die das Wasser eben noch bildete, in sich zusammenfielen und verschwanden, bis die Wasseroberfläche spiegelglatt war. Das beruhigte alle zutiefst. Sie konnten sich also tatsächlich mit den Glocken schützen. Sobald Miles aufhörte, zu bimmeln, begann das Wasser erneut zu tanzen.
Viola und Enza hängten sich noch zwei Glocken mehr an ihren Gürtel. Man konnte ja nie wissen. Dann band Miles sie alle mit einem Seil aneinander. Da sie sich nicht verständigen konnten, war die Gefahr einfach zu groß, dass einer von ihnen verloren ging und das durfte auf keinen Fall passieren. Miles führte die Riege an, Drago bildete das Schlusslicht. So begannen sie ihren Marsch. Die Luft roch feucht, erdig und entfernt nach dem beißenden Gestank einer Katzenmarkierung. Die Strahlen der Sonne brachen sich in Abermillionen Regentropfen und ließen die Gräser und Blätter glitzern und funkeln wie Kronjuwelen. Die Erde dampfte. Es war ein atemberaubender Anblick, doch niemand von ihnen hatte ein Auge dafür. Sie konnten an nichts anderes als ihre Mission denken.
Miles führte sie zunächst Richtung Felswand, bog dann aber links ab. Thomas warf einen Blick über seine Schulter. Viola ging hinter ihm und machte einen blassen und kränklichen Eindruck. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sebastian dahinter schien jedoch alle Zweifel und Sorgen ausgemerzt zu haben. Sein fester Schritt und die angespannte Körperhaltung signalisierten reine Entschlossenheit. In diesem Moment empfand Thomas für seinen Freund nichts als Sympathie. Und es tat ihm physisch weh, dass er und Viola ihn verletzen würden. Er hatte sich vorgenommen, ihm sofort reinen Wein einzuschenken, sobald sie wieder zu Hause waren. Es war genug Zeit ins Land gegangen. Er und Viola liebten sich, sie würden zusammen sein. Es war so einfach. Hier und jetzt konnte er nicht mehr verstehen, wieso sie sich nicht längst dazu entschieden hatten. Er sah noch einmal zu Viola herüber. Sie erwiderte seinen Blick. Erfreut bemerkte er, dass sie das Gleiche zu denken schien wie er. Doch die Freude währte nur kurz. Der Anblick von Dragos Speer, den er in der Hand hielt wie ein Buschkrieger, machte ihm schlagartig klar, dass sie noch einen blutigen Job zu erledigen hätten, bevor sie endlich glücklich werden konnten.
Sie waren nun bis in den Wald vorgedrungen, der das Camp von allen Seiten umgab und durch dessen dichtes Blattwerk nur vereinzelte Sonnenflecken fielen. In dem üppigen Gesträuchs konnten sie ein paar abgenagte Knochen liegen sehen. Reste einer Urod-Mahlzeit. Viola bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, wie nah ihnen die Urods die ganze Zeit gewesen sein mussten und sie war heilfroh, nichts davon gewusst zu haben. Es erklärte jedoch das ungute Gefühl, das sie die ganze Zeit nicht loslassen wollte.
Sie marschierten eine halbe Stunde an der Rückseite des Felsmassivs
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