Uschi Zietsch
Kelric.
Der alte Mann machte ein erschrockenes Gesicht und wollte widersprechen, aber Kelric kam ihm zuvor: »Bitte, Vater, zwing mich nicht, in deinen Gedanken zu forschen, was es ist! Ich gebe euch bis heute Abend Zeit, und dann will ich alles erfahren.«
Er stand auf und ging davon, zu seinem Lieblingsfelsen, um allein zu meditieren. »An meinen Händen klebt Blut«, murmelte er, während er still dastand und über die zerklüfteten Berge und tiefen Täler blickte. »Dennoch ist auch dies nur eine weitere Prüfung, die mich zwingt, meinen Schwur zu erfüllen.« Er wollte Bitterkeit empfinden, aber er konnte es nicht, heute nicht mehr. Er war zu alt und zu ruhig geworden; die Ruhe hatte schließlich seine Zwiespältigkeit besiegt und konnte jetzt nicht einmal mehr durch die Erinnerung an das Entsetzen seiner mordenden Hände erschüttert werden.
Mit der Begegnung und dem baldigen Abschied von seiner Familie sollte seine Sühnezeit und Läuterung beendet sein. Danach wollte er nichts anderes mehr fühlen als seine Hingabe und die Liebe an seine magische Kraft, der er gehörte und die ihm neben grenzenloser Einsamkeit auch das höchste Glück schenkte.
Melwin hatte ihn dazu gezwungen; er hatte viel entsetzlichere Dinge erlebt und wusste unendlich mehr als Kelric, doch das Massaker hatte ihn an sich selbst so sehr zweifeln lassen, dass er eine Entscheidung traf.
»Bin ich ein Ungeheuer oder ein Mensch?«, hatte er vor zehn Jahren Kelric gefragt. »Ich habe gemordet und mich deswegen kasteit, doch heute sehe ich es als Erfahrung und nichts sonst an, und es treibt mich weiter. « Er hatte Kelric umarmt und Abschied genommen. »Ich muss mich jetzt meiner Bestimmung zuwenden und die Lösung finden«, hatte er gemurmelt. »Es wird Zeit ... ich werde Wege gehen, die nie zuvor ein Zauberer betrat. Ich muss nun allein bleiben, Kelric, unsere Wege trennen sich. Du musst allein zu dir finden und lernen, dir selbst zu verzeihen, und deine Macht in die richtige Bahn zu lenken. Erst dann werden wir uns wiedersehen.«
»Pass auf dich auf, Melwin«, war alles, was Kelric dazu sagen konnte. Es war, als würde ihm das halbe Herz herausgerissen.
Sie hatten sich getrennt und bis heute nie mehr wiedergesehen, auch keine Nachrichten waren zugesandt worden. Obwohl Kelric inzwischen gelernt hatte, die Einsamkeit zu lieben, verging kein Tag, an dem er nicht an Melwin dachte und ihn vermisste.
Es tröstete ihn, zu erfahren, dass Melwin vor einiger Zeit ebenfalls hier gewesen war. So wusste er, dass der Freund niemals wirklich fort war, sondern in gewisser Weise immer noch an seiner Seite.
Als Kelric Betroffenheit spürte, drehte er sich um. Etwa zwanzig Männer, darunter Bruder und Vater, standen auf dem Felsen unter ihm, die lange Zeit geduldig gewartet hatten; doch als er immer noch länger reglos und in völliger Bewegungslosigkeit wie eine Statue dagestanden hatte, war ihnen angst geworden. Vielleicht begriffen sie endlich, wie kindlich der Respekt vor einem toten Stück Holz war und wie unbegreiflich ein Zauberer, der sich unbeobachtet glaubte.
»Ihr wollt mich führen«, sagte er ruhig.
»Wir wollten nicht stören«, sagte sein Vater schüchtern. Seine Miene war so erschrocken wie die der anderen.
Diese unschuldigen Kinder , dachte Kelric in leiser Nachsicht und ein wenig neidvoll. Ich muss bald aufbrechen, es wird Zeit.
»Gehen wir!«, sprach er und stieg zu ihnen hinab, einen kurzen Blick auf den Felsen zurückwerfend. Er wusste, dass er ihn nie wiedersehen würde.
Sie geleiteten ihn einen steilen Hang hinauf, durch unwegsames Gelände in der Nähe der Sommerweiden, bis sie vor einem großen Höhleneingang verharrten.
»Da drinnen lauert es«, begann einer. Ein anderer murmelte von hinten: »Ein Chitai .«
Kelric musterte einen nach dem anderen. »Ein Alb?«
»Ein kameren Chitai «, berichtigte sein Vater. »Er frisst unsere Ziegen und vergewaltigt die Frauen. Was kann man tun?«
»Nichts. Warten«, entschied Kelric und verschwand in der Höhle. Er folgte einem langen gewundenen Gang tief ins Innere des Berges; muffiger Tierdunst und der abscheuliche Gestank von verwesendem Fleisch wiesen ihm den Weg. Kelric erkannte, dass kein Chitai, sondern ein Kwam hier lebte, eine Art Dämonentier, das die Menschen so lange tyrannisieren würde, bis es nichts mehr zu holen gab. Vorsichtig tastete er sich weiter voran, bis er weit hinten das Lager des Wesens entdeckte, das durch das grünlich schimmernde Licht
Weitere Kostenlose Bücher