Utopolis
der Wirkung, aber höchst kompliziert und geistreich in der Erfindung.
»Außerhalb der Stadt kannst du natürlich die mechanische Zieleinstellung nicht brauchen. Du mußt dann die Metallplatte herunterklappen und wie in alten Zeiten das Lenkrad zur Hand nehmen. Aber«, so schloß er geringschätzig, »wer fährt schon heutzutage über Land … man fliegt, das ist doch viel bequemer.«
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Der erstaunlichen Höhe der Technik angemessen, erwartete ich in Utopien gesteigerte Rekordsucht der Menschen.
Ein Genosse, den ich hierüber befragte, belehrte mich anders. Bei einer Lichtbildvorführung aus der »alten Welt« sahen wir einem Automobilrennen an der Küste von Florida zu. Am Ziel erschien plötzlich ein Riesenplakat mit der Nachricht, daß der Wagen Nr. 26den Stunden-Weltrekord um 17,365 Kilometer verbessert habe. Die amerikanischen Zuschauer gebärdeten sich wie rasend, warfen die Arme in die Luft, sangen Hymnen, brüllten ihre Cheers. Die Lautsprecher heul ten wie Schiffssirenen. Ich gestehe, daß die Begeisterung auch mich mitriß. Ich vergaß, eine farbenprächtige Spiegelung vor mir zu haben, fuchtelte mit den Armen und beneidete die Männer, die den Sieger auf ihren Armen durch die tosende Menge tragen durften.
Da merkte ich plötzlich, daß meine Nachbarn um mich herum über mich lachten. Ich besann mich auf die Wirklichkeit, setzte mich beschämt in meinen Sessel und bemerkte nun, daß dieses Ereignis, welches in Amerika die Volksleidenschaft entfesselte, auf die Utopier gar keinen Eindruck gemacht hatte.
Mein Nebenmann zur Linken las mir die Gedanken vom erstaunten Gesicht ab.
»Diesen Rummel«, sagte er, »haben wir längst hinter uns. So lange man Maschinen auf gut Glück baut und sich von ihren Leistungen überraschen läßt, mag es Sinn haben, sie zum Wettkampf zu stellen. Sie werden ebenso überzüchtet wie Rennpferde oder Rekordläufer. All dies gehört zum Luxus des kapitalistischen Zeitalters. Reklame, käufliche Sensation, im Hintergrund strahlt in Glorie die Fabrikmarke …
In der klassenlosen Gesellschaft, die wir nahezu erreicht haben, vergeudet man natürlich keine Mittel für einmalige Leistungen, die den Ehrgeiz eines einzelnen befriedigen. Unsere Werkstätten verlassen nur hoch wertige Gebrauchstypen, die nicht für den Konkur renzkampf frisiert zu werden brauchen.
Ebenso haben wir keine Freude daran, Menschen in ein mechanisches Training hineinzuhetzen, das sie befähigt, um den Bruchteil von Sekunden schneller ein Ziel zu erreichen als andere, die ihre Zeit noch für an dere Zwecke nutzen. Daher ist bei uns der ›Professio nal‹ als Sportsmann längst ausgestorben.«
Ich wandte ein, daß ein Leben ohne Sensationen, ohne die spielerische Freude am Zufall auf die Dauer unerträglich langweilig werden müßte.
Der Utopier gab das ohne weiteres zu. »Du wirst bereits festgestellt haben«, meinte er, »daß in unserer Presse Sport und Spiel einen wesentlichen Raum einnehmen. Nur beurteilen wir diese Leistungen anders als ihr.«
Wir besuchten am nächsten Tag ein Wettspiel, das unserem Fußball ähnlich ist. Die Tribünen waren zum Brechen voll besetzt, der leidenschaftliche Anteil der Zuschauer gewaltig. Freilich gab es häufig Beifall, wo ich nichts Besonderes bemerkt hatte, während man kalt blieb, wenn meiner Meinung nach ein tüchtiger Effekt erzielt worden war. Allmählich kam ich dahinter, daß man sich nur für die vollendete Schönheit der körperlichen Bewegung interessierte und jede Gewaltsamkeit, die zur Verzerrung der Gebärde führte, verabscheute. Man forderte vom Zusammenspiel jeder Mannschaft äußerste Disziplin, man wollte das geistige Element einer Gemeinschaftswirkung spüren. So erschien das Ganze mehr wie ein Tanz in freien Rhythmen, die von den Kombinationen des Spiels bestimmt wurden, als eine Rekordhetze nach Punkten. Die Wertung der Spieler geschah entsprechend. Es war durchaus möglich, daß einer Mannschaft, die im einzelnen wie im ganzen diesen Ansprüchen genügt hatte, der Sieg zugesprochen wurde, auch wenn sie weniger »Tore geschossen« hatte als die andere.
Nach dem Spiel projizierten lichtplastische Scheinwerfer einzelne Teile des Kampfes noch einmal im Zeitlupenstil, damit die Preisrichter vor jedem Irrtum geschützt wären. Jede krampfhaft fanatisierte Geste bekam einen Strafpunkt und wurde ausgezischt, während besonders schöne Bewegungen, die volle Harmonie zwischen seelischer Spannung und körperlichem Ausdruck bewiesen, durch
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