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Utopolis

Utopolis

Titel: Utopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Illig
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zerfetzt das Feuerrohr. Die Lafette springt auf den Thron und wirft ihn um. Der Kaiser steht verblüfft. Das Gerüst bricht zusammen. Kaiser und Papst retten sich mit einem Sprung auf den durchlöcherten Altar.
    Die Landsknechte der Brigade Wehrhart rufen brausend Heil und wirbeln den Präsentiermarsch, während die Menge etwas ernüchtert nach den Ausgängen drängt.
    Mit schmerzenden Gliedern und wüstem Kopf fand ich mich auf dem Vorplatz des Doms. Ich war dankbar, daß mir leichter Regen die heiße Stirn kühlte.
     
29
     
    Da ich Hunger verspürte, ging ich in eines der Restaurants und verlangte zu essen.
    Verpflegung gibt’s in den Feldküchen der Armee, sagte man barsch. Einer der Lakaien hatte Mitleid. »Diesen alten Kerl machen sie doch nicht mehr zum Soldaten – und einen Arbeitsvertrag wird er auch nicht bekommen«, meinte er, und schob mir eine dünne Sup pe hin.
    Keineswegs satt, versuchte ich mein Heil bei der Abendmahlspeisung im Kirchenzelt. Sie bestand noch, war aber nicht mehr weit von bloßem Brot und saurem Landwein entfernt.
    Wer essen wollte, mußte sich also der Brigade Wehrhart verschreiben, die inzwischen den stolzen Titel »Armee« angenommen hatte. Und wen sie dort nicht brauchen konnten, der bekam Vorschuß auf einen Arbeitsvertrag, den er später, wenn man die Industrien in der Hand hätte, in Sklavenfron abbüßen sollte.
    Der Schnaps- und Besitzrausch hatte seine Schuldigkeit getan. Man wollte nun allmählich aus dem eingesetzten Kapital Zinsen ziehen.
    Mit bitteren Gefühlen durchstreifte ich die Straßen. Hohlwangige Gestalten, die die ungewohnten Ausschweifungen der letzten Tage ausgezehrt hatten, begegneten mir. Der Hunger trieb sie außer Haus. Wer zum Kriegsdienst tauglich war, hatte es gut, bekam eine schöne Uniform und kräftige Nahrung. Dafür wurde er auf Exerzierfeldern als Rekrut gedrillt. Die teuflische Strahlung bewirkte, daß man diese Beschäftigung für ehrenvoll hielt und ihre Entwürdigung nicht spürte. Die Untauglichen aber und die Frauen meldeten sich früher oder später in den Büros des Zivildienstes. Sie mußten dort einen Vertrag unterschreiben, der sie zu jeglicher Dienstleistung bei unbeschränkter Arbeitszeit verpflichtete. Dann erhielten sie Verpflegungsmarken, die sie gegen unzureichende und halb verdorbene Lebensmittel eintauschen durften.
    Besonders kräftige Männer hatte man der Polizeitruppe zugewiesen. Sie waren stolz auf ihre blanken Knöpfe und Helme und hauten mit Gummiknüppeln auf ihre Klassengenossen ein, so oft sich nach ihrer Meinung dazu Anlaß bot. Und dieser Meinung waren sie fast immer.
    Ich mischte mich unter Untaugliche, denen der Hunger aus den Augen sprang. Sie hockten im Schatten eines Kirchenpfeilers hinter Trümmern und Leichen und verhandelten Lackschuhe, Taschenuhren, Krawatten, Hosen gegen ein Stück Brot oder eine Konservendose mit fragwürdigem Inhalt. Sie schimpften und zeterten gegen Gott und Gesellschaft. Als ich aber versuchte, ihnen ihr früheres Leben ins Gedächtnis zurückzurufen, wiesen sie mich grob ab. »Halt’s Maul, alter Weltverbesserer«, schrie man mich böse an. »Wir sind in der Gosse geboren und werden auch dort verrecken. Das ist nun mal so auf Erden. Das wird auch kein Heiland ändern. Aber wir wollen denen, die zuviel haben, das Schwein aus dem Stall holen.« Und sie berieten einen Einbruchsplan für die Nacht.
    Die neue – mir allerdings altbekannte – Gesellschaftsordnung gebar sich bereits in der ersten Stunde ihr Verbrechertum.
    Große Müdigkeit nahm mir die Sorge ab, aus meiner Greisenrolle zu fallen. Mein Rücken beugte sich unter der unsichtbaren Last des Leides, das ich miterleben mußte.
    Noch drei oder vier Tage, dachte ich, dann ist alles vorbei. Dann hat entweder Joll gesiegt und errichtet das Reich der Menschlichkeit über dem Grab von Millionen. Oder Joll ist unterlegen und die alte Hölle schlägt über uns allen zusammen; und erst in vielen Geschlechtern, die furchtbare Unterdrückung dulden müssen, reift langsam wieder die Saat der Freiheit und der Wille zur Befreiung.
    Ich schleppte mich müde in die Sakristei der ausgestorbenen Kirche. Da lag das Priestergewand, das Hein vor kurzer oder langer Zeit – meine Erinnerung versagte – getragen hatte. Ich rollte es zum Kopfpolster und schlief ein.
    Ich träumte.
    Utopolis sah ich vor mir. Die ganze Stadt wie eine einzige unendlich lange Straße von ungeheurer Breite. Das Ende dieser Weltstraße verriegelte der Turm. Viel höher

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