Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
v204640

v204640

Titel: v204640 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Calaverno
Vom Netzwerk:
voraus auf die Terrasse. Die Sonne war bereits untergegangen; das diffuse Licht reichte gerade noch aus, um die Sitzgruppe zu erkennen. Markus lümmelte bereits auf einem der Sessel und trank etwas Dampfendes. Als er uns kommen sah, blitzten seine weißen Zähne im Dämmerlicht auf.
    »Können wir uns noch etwas bei dir stärken?«
    Wanda blickte auf ihre goldene Armbanduhr.
    »Tut mir Leid, Markus. Ich erwarte noch weitere Gäste. Sag das nächste Mal eher Bescheid, dann halte ich mir den ganzen Abend frei.«
    Markus sprang auf, griff sich noch ein belegtes Brötchen und küsste Wanda herzlich auf die Porzellanwange.
    »Danke für alles, du bist ein Schatz.«
    Ich wurde im Laufschritt durchs Haus und in den Wagen dirigiert, der unterhalb der Freitreppe auf uns wartete. Ich hoffte, einen Blick auf das nächste Straßenschild werfen zu können, aber meine Absichten wurden vereitelt. Markus setzte mir wieder die Maske auf. Ich hatte keine Chance, einen Blick hinauszuwerfen. Während der Fahrt verrutschte die Schlafbrille einmal. Im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos fiel mein Blick durch einen Sehschlitz auf meinen Ehering.
    Etwa auf halber Strecke durfte ich die Maske abnehmen. Wir machten Halt in einem romantisch beleuchteten Biergarten und bestellten einen großartigen Fischteller, den wir beide – in Gedenken an unsere erste Begegnung – unter anzüglichen Bemerkungen vertilgten. Später setzte Markus mich wieder an »unserer« Ecke ab. Ich war schon ausgestiegen, als er mir nachrief:
    »Warte einen Moment. Das hat mir Wanda für dich mitgegeben. Zur Erinnerung, du wüsstest schon …«
    Er drückte mir eine schwere Plastiktüte in die Hand. Ich beherrschte meine Neugier und war so gemein, die Tüte ungeöffnet mitzunehmen. Ich wollte lieber alleine nachschauen, was Wanda für ein passendes Erinnerungsstück hielt. Sämtliche Fenster meiner Nachbarschaft tarnten sich in unbeleuchteter Unschuld, aber ich wusste es besser. Eine alte Bäuerin hatte mir einmal folgende Geschichte erzählt:
    Als sie frisch verheiratet in die Familie ihres Mannes aufgenommen wurde, hatte eine Großtante sie beiseite genommen und ihr vertraulich zugeflüstert: »Kind, eins musst du wissen – und denk immer daran: hier haben Feld und Wiesen Ohren.«
    Dieser morphologische Zustand traf auch auf meine Siedlung zu. Und man kämpft besser nicht gegen Naturgesetze. Also bedankte ich mich laut und deutlich bei Markus für den schönen Abend und knallte die Autotür zu. Hoch erhobenen Hauptes winkte ich im Geiste meinem Publikum zu und verließ die Bühne. Kaum war die Haustüre hinter mir zugefallen, kümmerte ich mich um Wandas Überraschungstüte. Ein Blick hinein zeigte mir mehrere in Zeitungspapier eingewickelte Päckchen. Sechs Stück in der Größe von Halbpfundbroten. Ich entfernte behutsam das bröselige Papier. Zum Vorschein kamen Pflanzenbüschel. Als Erstes das schwarze Gras, das ich so bei ihr bewundert hatte. Die anderen Päckchen enthielten Ableger der Schokoladenblumen und – ich hatte richtig vermutet – dunkelviolette Heliotroppflanzen. Ihr schwüler Vanilleduft breitete sich aufdringlich in der Küche aus. Wie wunderbar von Wanda. Ich wickelte alles wieder ein, damit es nicht austrocknete und legte es vor die Terrassentür, damit es kühl lagerte.
    An diesem Abend stand ich mindestens eine halbe Stunde unter der heißen Dusche. Das Wasser sprudelte an mir herab, die Dampfschwaden füllten die Kabine mit dichtem Nebel und meine Haut begann zu glühen. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu aufraffen, das Wasser abzustellen. Noch vor Kurzem hätte ich die bloße Andeutung, ich könne Folterkammern erregend finden, empört zurückgewiesen. Mied ich nicht deshalb Action- und Horrorfilme, weil ich die Grausamkeiten abstoßend fand? Wieso hatte die Atmosphäre absoluter Macht über Schmerz und Lust mich so gefangen gehalten, ja geradezu korrumpiert? Zum ersten Mal dachte ich über meine Grenzen nach. Schon jetzt befand ich mich an einem Punkt, an dem ich mich keinem Menschen in meiner näheren Umgebung mehr anvertrauen konnte. Das einzig Vernünftige wäre gewesen, die Affäre sofort zu beenden. Aber das brachte ich nicht fertig. Bereits die teils lustvolle, teils ängstliche Erwartung erneuter Treffen beschleunigte meinen Puls. Markus’ Spiele hielten mich in einem Netz aus Lust, Angst, Erwartung und Ungewissheit fest. Und so kam es, dass ich mich weiter darauf einließ. Oh ja, natürlich würde ich die Sache beenden

Weitere Kostenlose Bücher