Vaethyr: Die andere Welt
und begann ihre überall verteilten Kleidungsstücke zusammenzusammeln. Sie setzte sich auf die Bettkante und ließ den Kopf hängen, schüttelte sich dann und begann sich anzuziehen, wobei sie sich jedoch so ungeschickt anstellte, dass Sam eine ganze Minute vor ihr fertig angezogen war.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er sanft und ließ dabei seine Hand über ihrer Schulter schweben, ohne sie wirklich zu berühren.
»Hilf mir das Bett machen«, sagte sie und zog die Decken über die klebrigen, zerwühlten Laken. Ihr Mund war trocken und ihr Herz drohte zu zerspringen, aber ihr einziger Gedanke galt der Beseitigung der Beweise, wenn auch zu spät. »Schmeiß mir mal die Kissen her.«
Sam gehorchte. »Woher wusste er, dass wir hier sind?«
»Er wusste, mit welchem Grundstück ich anfangen würde. Er kommt oft vorbei, wenn er zufällig auf der Baustelle ist. Doch heute hatte ich nicht damit gerechnet. Mein Gott, was bin ich nur für ein Idiot!«
»Nein. Es war einfach Pech.«
Der Raum sah bald schon wieder so unberührt aus, wie sie ihn vorgefunden hatten. Nun würde keiner mehr das Bett durcheinanderbringen, bis das Haus verkauft war; wenn aber doch, mussten diejenigen mit einer ziemlich unerfreulichen Überraschung rechnen. Rosie holte schaudernd Luft. »O Gott.«
»Es tut mir so leid, Baby.« Sam fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er auf ihre Bloßstellung mit hämischer Freude reagierte, doch wieder hatte sie sich in ihm getäuscht. »Das hätte nie passieren dürfen. Was sollen wir jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht, Sam.« Endlich schaffte sie es, ihm in die Augen zu schauen. Sein Haar war zerzaust und er sah sie zärtlich und zutiefst besorgt an. »Ich sollte zu ihm gehen.«
»Nein, an deiner Stelle würde ich ihn sich erst mal beruhigen lassen.«
Sie atmete aus. »Wenn ich es hinausschiebe, wird es nur noch schlimmer. Er verdient eine Erklärung.«
»Dann lass mich mitkommen. Wir stellen uns dem gemeinsam.«
»Oh, das würde ihm gefallen.« Durch den Schock war das wohlige Nachspüren schal geworden. Sie konnten einander kaum anfassen. »Danke, lieber nicht. Das muss ich allein machen.«
Lucas war unterwegs zu Freias Krone. Er näherte sich ihr von Westen her, über den urwüchsigsten Teil des Anwesens, wo man ihn von Stonegate Manor aus nicht sehen konnte. Er zwängte sich durch das wachsige Dickicht immergrüner Büsche, kam durch Buchenwälder und Gestrüpp und erklomm dann den steilen felsigen Abhang, der zum großen Backenzahn des Kamms hinaufführte.
Dabei ging er ein großes Risiko ein. Wenn Lawrence ihn erwischte, wäre alles aus. Käme Jon dahinter, wäre er wütend – und zwar richtig. Außer auf Rosies Gästebett zu hocken und in Selbstmitleid vor sich hin zu brüten, hatte Jon monatelang nichts getan. Jetzt endlich hatte Lucas seinen ganzen Mut zusammengenommen, um die Wahrheit herauszufinden.
Die schräge vulkanische Felsnase ragte über ihm auf. Dort angelangt presste er eine Hand gegen die Oberfläche und ruhte sich aus, bis sein Atem sich wieder normalisiert hatte. Hier oben war der Wind eiskalt. Er hatte genug Zeit gehabt, um die Angst, die bei seinem letzten Besuch hier Besitz von ihm ergriffen hatte, zu überwinden, und war jetzt trotz seiner Nervosität überraschend gefasst. Wieder ließ er seinen Blick über die wilde Landschaft schweifen, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Der graue Schatten eines Disir umschnüffelte ihn, aber er machte keine Anstalten, ihn zu verscheuchen.
Vorsichtig verschmolz Lucas mit den Schattenreichen.
Die Welt wurde zu flüssigem Blau. Die Großen Tore erhoben sich in ihrer majestätischen Pracht – ein von den Alten geschaffenes Gebilde. Bei ihrem Anblick wurde ihm schlagartig schwindelig und er hielt inne, um seine Nerven zu beruhigen … dann arbeitete er sich langsam vor und strich mit seinen Händen über die grobkörnige Oberfläche. Die wulstige Narbe auf seiner Brust begann zu pochen und zu brennen.
Er hatte nicht damit gerechnet, fündig zu werden. Dass die Oberfläche des Felsens sich nach dem schlimmen Trip mit Jon geöffnet hatte, konnte er nur halluziniert haben. Unmöglich, dass sich ein Spalt aufgetan hatte, ansonsten hätte Lawrence ihn gefunden.
Der Fels sprach und Lucas zuckte zusammen. Man hörte ein tiefes, hallendes Ah , als der schwere Stein sich verschob. Seine Finger fanden den Rand eines Risses. Eine gezackte dunkle Linie, die sich von der Krone bis zur
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