Vaethyr: Die andere Welt
wegführen. Sapphire ging mit ihnen. Rosie zögerte und war plötzlich allein mit Jon und seinem Vater.
Jon und Lawrence im selben Raum. War das nötig gewesen, um sie zusammenzubringen?
Lawrence sprach kein Wort. Er ging zur anderen Bettseite und starrte Lucas an. Was sich hinter seinem steinernen Gesicht abspielen mochte, blieb Rosie verborgen – aber fühlen musste er etwas, mit Sicherheit, oder wäre er sonst hier?
»Kannst du mich bitte ein wenig näher ranschieben?«, bat Jon sie.
Rosie bewegte folgsam den Rollstuhl. Sein Morgenmantel war von derselben Farbe wie sein zerzaustes Haar und mit seinen geröteten Augen machte er einen benommenen Eindruck. Er trug einen Arm in der Schlinge, hatte einen beeindruckenden Bluterguss auf der Stirn und sein linker Knöchel war geschient. Rosie, die alle kleinlichen Ressentiments abgelegt hatte, hätte weinen können vor Erleichterung, ihn am Leben zu sehen. »Wie geht es dir?«
»Was meinst du wohl?« Seine Stimme war belegt. »Absolut beschissen. Sie geben einem zwar Morphium, aber nie genug. Und dir?«
Rosie konnte nicht antworten.
Jon starrte auf Lucs geschwollenes Gesicht, die geschlossenen Augen – seine Abwesenheit . Es verlieh ihm etwas Gespenstisches. Eine Weile schwiegen alle. Dann beugte Jon sich vor und berührte das Handgelenk seines Halbbruders. »Luc?« sagte er mit so rauer Stimme, dass sie kaum hörbar war. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Mir geht es gut, nur Schnitte und Blutergüsse. Ich bin noch immer da, aber wo bist du? Du wirst doch nicht ohne mich in die Anderswelt gehen, oder? Wir haben doch immer gesagt, wir machen das zusammen.«
Jons Stimme brach und er bekam einen Weinkrampf. Lawrence schielte mit zuckenden Brauen auf ihn, sagte aber nichts. Rosie kämpfte gegen ihre Tränen an und fragte sich: Kann er nicht mal seinen eigenen Sohn trösten? Vorsichtig legte sie ihre Hand auf Jons Schulter.
»Kannst du dich denn daran erinnern, was passiert ist?«, fragte sie ihn.
»Ich erinnere mich, dass mich ein Sanitäter herausgezogen hat. Überall waren Zweige.« Er drehte sich um und sah sie an. Seine geröteten Augen funkelten. »Das hat Alastair getan«, sagte er. »Dein wunderbarer Ehemann.«
Sie hielt erschüttert die Luft an. »Du weißt, dass er tot ist, nicht wahr?«
»Ja. Es tut mir leid für dich, aber entschuldige bitte, wenn meine Trauer sich in Grenzen hält.«
»Er hat mir etwas bedeutet«, erwiderte sie bitter. »Es war nicht sein Fehler, dass ich ihn nicht so lieben konnte, wie ich das sollte. Das war doch ein Unfall, oder?«
Sie schrak vom Zischen der Tür zusammen. Eine forsche, lächelnde Krankenschwester trat ein und bat sie freundlich, doch so lange hinauszugehen, während weitere Tests vorgenommen wurden. Tests . Was würden sie herausfinden – dass die fremde Physis der menschlichen überlegen war? Erstaunliche Heilkräfte? Oder waren Elfenkörper so perfekt getarnt, dass sie sich nicht unterschieden, derselbe anfällige Zellstoff? Im menschlichen Sinne getötet , was bedeutete das?
Als sie den Raum verließen – Lawrence schob Jons Rollstuhl –, schaute Rosie so lange zu Lucas zurück, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Noch an diesem Morgen hatte er gähnend bei ihr am Frühstückstisch gesessen und versucht die Silberkette zu reparieren, die sie trug, während sie darüber lamentierte, dass seine langen Haare im Bad herumlagen. Das war surreal. Das konnte unmöglich wahr sein.
Als sie wieder im Warteraum für die Verwandten waren, wo die anderen Kaffee tranken, versuchte Phyll Jessica sanft zu überreden, nach Hause zu gehen. Noch immer kein Sam. Als sie Rosie sah, sprang ihre Mutter fast vom Stuhl, Hoffnung und Angst im Gesicht. »Was ist los?«
»Nichts, Mum«, seufzte Rosie und suchte sich einen Platz. »Sein Zustand ist unverändert.«
Sapphire sagte: »Phyllida hat recht, es ist spät. Ich bringe Jon zurück auf die Station. Er sollte das Bett eigentlich nicht verlassen nach allem, was er durchgemacht hat.«
»Einen Moment«, sagte Jon grimmig. »Das müsst ihr erfahren, bevor ich umkippe. Ich erzähle euch, was passiert ist.«
Die Aufmerksamkeit aller war auf ihn gerichtet und es herrschte eine beklommene Stille. Selbst Lawrence, der ansonsten gewohnt war, das Kommando zu übernehmen, hörte zu. Mit leiser, rauer Stimme beschrieb Jon die Ereignisse der Nacht. Rosie hatte ihren Kopf in die Hände gelegt und jedes seiner Worte war eine einzige Folter.
»Es war kein Zufall, dass Alastair
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