Vaethyr: Die andere Welt
»Schalt das Licht aus«, zischte er.
Erschrocken gehorchte Lucas. Jetzt blendete ihn die Dunkelheit. »Ich … ich … Es tut mir leid, Mr Wilder«, stieß er hervor. »Ich wusste nicht, dass Sie … Ich werde gehen.«
»Nein.« Eine Hand fiel auf Lucas’ linke Schulter und ließ ihn zusammenzucken, als hätte er einen Stromschlag bekommen. »Es ist gut, Lucas.« Lawrence’ tiefe, ruhige Stimme kam rollend aus der samtigen Dunkelheit. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Es tut mir leid.«
»Schon okay.« Er wusste, dass Lawrence spürte, wie er zitterte, aber er konnte es nicht unterdrücken.
Eine weitere Hand tauchte hinter ihm auf, um auch noch seine rechte Schulter zu packen. »Ist alles in Ordnung mit dir? Atme mal tief durch. Ich hab gehört, das soll helfen.«
Lucas zitterte und wäre am liebsten im Boden versunken. Als die Schockwelle verebbte, schlug auch sein Herz wieder langsamer.
»Konntest wohl auch nicht schlafen?«, fragte Lawrence und klang dabei recht freundlich.
»Nein, Sir«, murmelte Lucas. »Ich hatte Hunger.«
»Natürlich. Bedien dich. Ich wollte gerade Tee kochen.«
Die schweren Hände fielen von ihm ab. Lawrence stand als Schattenriss vor dem Fenster, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann lehnte er sich neben Lucas über die Arbeitstheke und verfiel im Dunkeln in das merkwürdigste Schweigen, das Lucas je erlebt hatte. Er wusste nicht, wie er entkommen sollte. Wieder spürte er den greifenartigen Schatten, der sich durch den Raum bewegte. Wortlos, weil er Angst hatte, etwas zu sagen, starrte er darauf und versuchte ihn zu sehen.
»Es ist nur ein Disir «, sagte Lawrence. »Sie sind so etwas wie Wachhunde, aber nur, um zu warnen, nicht, um jemandem wehzutun. Ich befehlige sie, da der offizielle Disir -Hüter mich verlassen hat, aber das heißt nicht, dass ich sie hierhaben will, diese mir auferzwungenen Insignien meines Amts. Wächter oder Spione?«
Wäre Lucas ein Mensch gewesen, wäre er sicherlich zu der Überzeugung gelangt, dass Lawrence durch und durch wahnsinnig war. Da sie jedoch beide Elfenwesen waren, empfand er ihn nur als teilweise wahnsinnig. »In unserem Haus habe ich noch nichts Derartiges gesehen«, sagte er. »Auch nicht in den Schattenreichen.«
»Nun, da kriegst du sie auch nicht zu Gesicht«, sagte Lawrence freundlich. »Deine Familie ist glücklich und heil und lebt so, wie es sich für Geschöpfe des Äthers schickt: mit den Wurzeln in der Erde und ihren Zweigen im Licht. Solche Spukgestalten suchen dein Zuhause nicht heim.«
»Ich – ich sollte wieder zu Bett gehen.«
»Nein, bleib. Lass uns Tee trinken und reden.« Man konnte sich Lawrence’ Ton unmöglich widersetzen. Er schenkte kochendes Wasser in Becher. »Ich trinke meinen mit einem Schuss Whiskey. Möchtest du auch einen? Gegen den Schrecken?«
Lucas hustete. »Nein – nein danke.«
»Nur einen Tropfen. Du bist doch kein Kind mehr.«
»Oh, äh – also gut, danke Sir.« In Lucas keimte ganz unschuldig der Verdacht, dass dies für Lawrence nicht der erste Drink an diesem Abend war.
»Du bist sechzehn, nicht wahr?«
»Ja.« Der Tee war schwarz, süß und brannte heiß in seiner Kehle. Wenn Rosie am Morgen seinen Atem roch, würde sie durchdrehen. Doch Lucas hatte das Gefühl, als würde dieser Morgen niemals kommen. Denn sicherlich würde Lawrence Wilder sein Blut trinken oder ihn ersticken.
»Sechzehn. Alt genug für die Initiationsriten. Alt genug, Wissen zu empfangen. Ich gehe davon aus, dass dein Vater ein sehr schlimmes Bild von mir gezeichnet hat.«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte er. »Ich hatte immer den Eindruck, dass er Sie bewundert – zwar widerwillig, aber immerhin.«
Lawrence lachte bellend. »Das ist ja toll. Dein Vater – wie immer der Diplomat, der Philanthrop, das Rückgrat unserer Gemeinschaft. Typisch dein Vater …«
Wieder Schweigen. Der Tee mit Schuss trieb Lucas noch weiter weg von der Realität. Er beobachtete den herumschweifenden Disir und wartete darauf, dass Wilder weitersprach.
»Die Sache ist nämlich die – und man sollte dir das erzählen, denn du bist jetzt alt genug, zu erfahren, was deine reizende Familie zweifellos für immer unter den Teppich zu kehren versucht hat: Eigentlich bin ich dein Vater.«
»Sie sind was?« Lucas musste unfreiwillig lachen. Lawrence lachte auch und dabei verzog er fröhlich sein kaum sichtbares Gesicht.
»Du bist mein Sohn, lieber Junge. Nicht der von Auberon. Meiner.«
~ 6 ~
Kampf der
Weitere Kostenlose Bücher