Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
Sie tröstet ihre Mutter nicht, berührt sie nicht einmal. Sie beginnt, sich zu erinnern. Eine Erinnerung, die sie tief in sich vergraben hat, taucht allmählich aus dem Nebel ihres Verstandes auf. Lottie. Ja. Sie sieht diese Frau vor sich, hochgewachsen, mit struppigen schwarzen Haaren, wie eine Hexe. Sie hatte sie unheimlich gefunden. Und jetzt erinnert sie sich an einen Friedhof. Wie kalt es gewesen war, und wie sie nicht dort hinein gehen wollte. Sie erinnert sich, wie Lottie ihre Hand fest umklammerte und sie wegdrehte, aber sie hatte bereits gesehen, wie sich ihre Mutter vor einem Grab auf die Knie fallen ließ. Ihre Mutter wimmerte so laut, dass sie schreckliche Angst bekam. Sie wusste, dass irgendjemand Wichtiges gestorben war. Sie wusste nur nicht, dass es ihr Vater war.
»Wie ist er gestorben?«, fragt sie unerbittlich weiter, die Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt.
»Er wurde getötet, als er versucht hat, über die Mauer zu fliehen«, stößt ihre Mutter hervor, während sie sie durch Tränen hindurch verzweifelt ansieht. »In den Rücken geschossen. Er versuchte, zu dir zu gelangen, Valentina. Er wollte seine kleine Tochter sehen.«
Valentinas Herz bricht auf. Sie hatte gedacht, sie hätte es für immer verschlossen. Dass ihre Mutter sie nicht mehr verletzen könnte. Doch jetzt taut es auf. Vor der Liebe, die sie für Thomas empfand, vor Leonardos heilender Gegenwart und all dem, was er getan hat, um sie aufzuschließen, hätte Valentina diese Neuigkeit vielleicht ruhig, fast zynisch aufgenommen.
Er wollte seine kleine Tochter sehen.
Konnte das wahr sein? War ihr Vater gestorben, weil er sie so unbedingt kennenlernen wollte? Sie starrt ihre Mutter an, die völlig aufgelöst vor ihr sitzt, und auf einmal passiert etwas. Plötzlich begreift sie. Ihre Mutter hatte ihr zuliebe ihr Bestes versucht . Beim Anblick ihrer weinenden Mutter brechen Valentinas eigene Gefühle heftig aus ihr hervor … wie ein Vogel, der auf einmal aus seinem Käfig befreit wurde.
»Mama …«
Ihre Stimme bricht, und sie kann spüren, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Tina Rosselli beugt sich vor und nimmt ihre Hände. Sie klammern sich aneinander, während Valentina endlich begreift, wer ihre Mutter ist. Es hat fast dreißig Jahre gebraucht, aber es ist nicht zu spät für einen Neuanfang.
»Verzeih mir, Valentina«, flüstert ihre Mutter.
»Das habe ich schon, Mama.«
Tina
1990
Seit sie am Montag für das Modeshooting für die französische Marie-Claire -Ausgabe in London angekommen ist, fällt es Tina schwer, sich zu konzentrieren. Die Serie will den Londoner Street-Style einfangen, um der französischen Leserschaft einen etwas wilderen Look zu präsentieren. Sie hat sich für das East End, rund um Bow, und den Kanal als Setting entschieden, aber auch bekanntere Orte, wie zum Beispiel einige der alten Wren-Kirchen, einbezogen. Trotz ihrer langen Arbeitszeiten nimmt sie jeden Abend die U-Bahn zur Finchley Road, wo sie es nie weiter als bis zum U-Bahn-Ausgang schafft, bevor sie kehrtmacht und zurück ins Stadtzentrum fährt.
Heute ist ihr letzter Abend. Ihre letzte Chance, Phil zu sehen. Sie weiß genau, wo er wohnt. Sie hat die Adresse vor Wochen von Mattia bekommen. Sie hat ihrem Sohn das Versprechen abgenommen, nichts zu sagen, hat so getan, als wollte sie Phil wegen irgendetwas schreiben, was mit Valentina zu tun hätte. Ehrlich gesagt, glaubt sie ohnehin nicht, dass Mattia sich viel darum kümmert, was sie im Schilde führt. Er hat sein eigenes Leben in Amerika mit seiner Freundin Debbie und ihrer Familie.
Er hat sich von Tina und Phil offenbar losgesagt und einen Neuanfang gemacht.
»Das ist einfach sein Alter«, sagt Isabella zu ihr.
»Woher willst du das wissen?«, fragt sie ihre Freundin. »Du hast keine Kinder.«
Isabella zuckt die Schultern. »Das weiß ich, aber ich weiß auch, dass du nichts daran ändern kannst.«
Sie wohnt bei Isabella und ihrem derzeitigen Liebhaber in ihrer schicken Wohnung in Kensington. Am Abend zuvor, bei ein paar Gläsern Wein, hatte sie ihre Freundin um Rat gefragt, ob sie Phil besuchen sollte. Sie hatte erwartet, dass Isabella ihr sagen würde, sie solle Phil vergessen, das Single-Dasein genießen und mit ihr an dem Abend auf Clubtour gehen, da ihr Liebhaber nicht in der Stadt war. Doch zu ihrer Verblüffung hatte Isabella sie ermutigt, ihn aufzusuchen.
»Ihr zwei seid füreinander geschaffen«, sagte sie.
Und so ist sie nun hier, auf halbem Weg die Finchley
Weitere Kostenlose Bücher