Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
Natürlich weiß sie, wer sie ist. Vivienne Aury ist eine der Top-Zeitschriftenredakteurinnen der Welt.
»Lassen Sie es mich erklären«, sagt Vivienne, als sie Tinas Verwirrung sieht. »Ich bin eine alte Freundin Ihrer Mutter.«
»Meiner Mutter!«, ruft Tina, außerstande, ihr Erstaunen zu verbergen.
»Wir kannten uns, als sie in Paris lebte, zwar nicht sehr lange, aber wir standen uns dennoch sehr nahe.«
»Es tut mir wirklich leid, aber ich glaube, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Meine Mutter war in ihrem ganzen Leben nie in Paris.«
Vivienne scheint verblüfft und sieht Tina durchdringend an.
»Ihre Mutter ist Maria Rosselli, Tochter von Belle Brzezinska aus Venedig?«, fragt sie Tina.
»Nun ja, das ist ihr Name, der Name meiner Großmutter, aber …«
»Sie hat in London Tanz studiert, und 1948 ist sie dann nach Paris gezogen«, unterbricht Vivienne sie.
»Nein, das kann nicht meine Mutter gewesen sein«, widerspricht Tina. »Sie war keine Tänzerin. Sie hat ihr ganzes Leben in Italien gelebt, bis sie …« Tina stockt. »Bis sie ein Flugzeug nach Amerika genommen hat … und …«
Vivienne beugt sich vor und legt eine Hand auf Tinas.
»Ich weiß«, sagt sie leise. »Sie kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.« Sie hält einen Moment inne. »Sie wollte mich endlich in New York besuchen. Es tut mir so leid, Tina. Ich hätte Ihnen damals schreiben sollen, um Ihnen mein Beileid zu bekunden, aber ich war mir nicht sicher, ob Sie überhaupt von mir wussten, und von Marias Vergangenheit … Jetzt ist mir klar, dass Sie nichts darüber wissen.«
Tina nimmt einen Schluck von ihrem Rotwein. Sie will Vivienne sagen, dass es ein schrecklicher Irrtum ist. Die Frau, die sie für Maria Rosselli hält, kann nicht ihre Mutter sein. Doch dann wird sie auf einmal von einer Erinnerung durchzuckt, einem Moment, als sie ein kleines Mädchen war. Sie erinnert sich, wie sie eine Tür öffnete und ihre Mutter tanzen sah. Sie war allein, ein Staubtuch in der Hand, die Schürze umgebunden, das Haar unter einem Tuch zusammengefasst, und drehte sich in dem Sonnenlicht, das durch die staubigen Fenster hereinflutete, während Staubkörner wie glitzerndes Gold um sie herumwirbelten. Ihre Mutter war in diesem Augenblick eine Prinzessin gewesen. Bis zu diesem Moment hatte sie das alles völlig vergessen.
»Bitte«, presst sie hervor, »erzählen Sie mir, wer meine Mutter war.«
»Maria Rosselli war eine sehr begabte junge Tänzerin, auch wenn sie mir das zu der Zeit, als ich sie kannte, nie erzählt hat. Das erfuhr ich erst später«, beginnt Vivienne. »Was kann ich über Ihre Mutter sagen? Sie war ein echter Freigeist, eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Sie hat mich inspiriert, meinen Traum zu verfolgen und nach New York zu gehen und Zeitschriftenredakteurin zu werden.«
Tina bleibt vor Verblüffung der Mund offen stehen. Viviennes Beschreibung ihrer Mutter ist genau das Gegenteil davon, wie sie selbst sie beschrieben hätte.
»Als ich ein Kind war, war sie nicht so«, entgegnet Tina.
Sie denkt zurück. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter ständig an ihr herumnörgelte oder auf dem Boden kniete und betete. Sie erschien ihr so alt und grau, aber jetzt wird ihr klar, warum.
»Sie war sehr traurig«, sagt Tina zu Vivienne. »Ehrlich gesagt, stand ich meinem Vater näher.«
Vivienne wendet den Blick ab, und eine leichte Röte überzieht ihre Wangen. Tina bemerkt es sofort.
»Was ist geschehen? Warum hat meine Mutter sich verändert?«
»Sie hatte einen Liebhaber in Paris. Deswegen ist sie dorthin gezogen«, erklärt Vivienne.
»Einen Liebhaber?«, wiederholt Tina ungläubig.
»Ja, wir gehörten alle zu dieser Szene in einem kleinen Viertel namens Saint-Germain-des-Prés in Paris. Wir tanzten die Nächte durch, hörten Jazz, hingen in Cafés herum und diskutierten über Kunst und Politik, wissen Sie, mit Leuten wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Juliette Gréco, Albert Camus und Jean Cocteau.«
Tina ist sprachlos. Die Vorstellung, dass ihre Mutter in ihren Clogs und einem blauen Kleid, bei jedem Wetter mit ihrem schwarzen Kopftuch, in einem Café sitzt und mit Simone de Beauvoir über den Feminismus diskutiert, scheint absurd.
»Ihr Liebhaber, Felix Leduc, gehörte ebenfalls dieser Szene an. Er war Filmemacher, ein Surrealist wie Cocteau.«
»Ich kann es nicht glauben, das ist einfach unfassbar«, flüstert Tina.
»Es tut mir leid, es muss ein kleiner Schock für Sie sein«, sagt Vivienne.
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