Valentine
zu antworten.
»Wisst Ihr, wo sich Monsieur Frédéric aufhält, Madame La Duchesse?«
Wenn Frédéric nicht vor ihr heimgekehrt war, versuchte er demzufolge noch, Aliénor zu finden. Ein aussichtloses Bemühen. Vampiren war es nicht möglich, sich auf die Seite der Seelen zu transformieren.
Valentine hatte ihren Bruder nur einmal in ihrem Leben so aufgewühlt und verzweifelt erlebt wie in dem Augenblick, als sie ihm alles erzählt hatte. Er war in den Ballsaal gestürzt und hatte wie ein Verrückter auf den Spiegel eingeschlagen, als ob das etwas ändern würde. Fast befürchtete sie, der alte Kristallspiegel würde daran zerbrechen. Wie durch ein Wunder hielt er jedoch s tand.
Sie machte sich Vorwürfe. Wäre sie nicht so verblendet und verliebt gewesen, hätte sie sich um Frédéric gekümmert und versucht, ihm irgendwie beizustehen.
»Nein, Bertrand. Ich hatte gehofft, mein Bruder wäre längst zurück.«
Möglicherweise bat Frédéric den Hüter um Hilfe. Da die Welt der Geister und Verstorbenen ein ganz eigenes, von allen anderen abgeschottetes Reich darstellte, würde dieser ihm vermutlich nicht helfen können. Mit Sicherheit wusste sie dies jedoch nicht.
Bertrands betroffenes Gesicht rief danach, ihn zu trösten, obwohl sie doch selbst des Trostes bedurfte, auch wenn sie sich nichts anmerken lassen wollte.
»Madame, darf ich Euch etwas zeigen?« Mitfühlend und treu bis in den Tod , war Bertrand als Angehöriger einer niederen, mit Menschengenen vermischten Vampirkaste seit langem in den Diensten der de Bonville. Niemals würde er diese Frage stellen, wenn es nicht von extremer Bedeutung wäre.
»Ja, was denn?« Valentine sehnte sich danach, endlich allein zu sein. Falls Frédéric bis zum Morgengrauen nicht zuhause wäre, würde sie ihm eine SMS schicken.
Der Butler wies auf der Treppe nach oben. »Bitte, Madame La Duchesse, im Ballsaal.«
Er ging voraus, hielt ihr die Tür auf und führte sie dann bis vor den Spiegel, der so viel tragische Bedeutung erlangt hatte.
Dieser unheilvolle Ballsaal. Valentine stockte der Atem. In krakeliger Schrift stand dort quer über den Spiegel in grau-metallic schimmernden Buchstaben geschrieben, als wäre es von der Rückseite in Spiegelschrift hineingekratzt worden: »Sorgt euch nicht, alles in Ordnung. Aliénor«
»Bertrand, du glaubst … « Valentine schwankte zwischen Hoffnung und Ungläubigkeit. »Eine Botschaft von Aliénor. Das ist immerhin etwas. Gut, dass du es mir gezeigt hast.«
Bertrand deutete eine Geste an, die ausdrückte, dass dies für ihn selbstverständlich sei.
Sie zückte ihr Handy. Vielleicht war dieses neumodische Gerät wenigstens für irgendetwas nützlich. Sie tippte eine kurze SMS – mit einem Stift schrieb sie eindeutig schneller – und hoffte, diese würde Frédéric bald erreichen. Egal, wo er sich befand.
» Euer Ärmel, Madame … «
Valentine winkte ab . » Es ist nichts. Nur ein Riss, den Roxanne bestimmt flicken kann .«
»Kann ich noch irgendetwas für Euch tun, Madame La Duchesse?«
Am liebsten viel Alkohol, damit ich meinen Schmerz ertränken kann, dachte Valentine grimmig. Für einige Stunden über nichts nachdenken zu müssen, das Gehirn betäuben, das wäre ein Traum. Andererseits, es wäre nicht mehr als eine Auszeit. Die vielen Probleme würden sich dadurch nicht in Luft auflösen.
»Nein danke. Sag mir Bescheid, wenn mein Bruder heimgekehrt ist.«
Es war bereits weit nach Mittag. Valentine fand keinen Schlaf. Seit Stunden grübelte sie abwechselnd über das Phänomen Maurice, nach wie vor fassungslos darüber, dass sie ihn nicht sofort als Schwindler entlarvt hatte, und ob es Aliénor gelingen würde, aus der Welt hinter den Spiegeln zurückzukehren. Falls nicht – es wäre nicht auszudenken, was Frédéric tun würde.
Bei nüchterner Betrachtung ihres Erlebnisses im Domarchiv drängte sich ihr mehr und mehr eine neue Schlussfolgerung auf, die ihren Zorn schwächte, ihre Verzweiflung jedoch neu schürte: Falls Maurice nicht zu den Vampirjägern gehörte, wie er beteuert hatte, dann hätte sie ihm Unrecht getan. Woher kannte er diese Männer? Wie groß war die Chance, dass er die Wahrheit gesprochen hatte?
Verdammt. Wütend über ihre Gedanken, die sich ohne Lösung im Kreis drehten, warf Valentine ein Kissen gegen die Wand und setzte sich auf. Am besten ging sie in den Trainingsraum und machte ein paar Übungen mit dem Schwert, das brachte oftmals den inneren Unfrieden ins Reine.
In diesem
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