Valentine
Arm hinaufraste, sodann einen Stoß, der ihn zur Seite taumeln ließ. Geistesgegenwärtig hatte Frédéric, der in der Mitte der drei stand, Emanuele und Maurice weggestoßen. Er selbst drehte sich schnell nach hinten fort, als mit lautem Krachen der Spiegel in Tausende kleiner Splitter zerbarst. Infolge der über dem Boden wabernden Nebelreste war nicht auszumachen, wie weit sie sich im Saal verteilt hatten.
»Merde! Was hat das zu bedeuten?«, knurrte Frédéric voller Zorn.
»Die Geister halten sie fest«, mutmaßte Emanuele.
»Gebt mir Aliénor zurück!«
»Hier«, Emanuele winkte Maurice und Frédéric zum nächsten Spiegel. Schnell formierten sie sich dort neu. Sein Arm schmerzte höllisch. Doch auch aus diesem Spiegel trat Nebel , und kurz darauf zerbarst er unter lautem Getöse.
»Machen wir irgendetwas falsch?«, fragte Maurice besorgt und schüttelte seinen Arm aus. Wenn sie weiterhin planlos vorgingen, würde es am Ende keinen einzigen intakten Spiegel mehr geben. Vielleicht durften sie die Mondsteine nicht so nah an den Spiegel halten.
»Hört!«, rief Valentine.
Aus dem letzten Spiegel in der Reihe schimmerte ein schwaches Licht , und ein Flüstern war zu hören. »Kommt … Hier …«
Frédéric reagierte als E rster. »Aliénor!«
Die drei hasteten ans Ende der Spiegelgalerie. Schemenhaft waren ein Augenpaar und ein Mund zu erkennen , und dann, als sie gemeinsam ihre Kristalle dem Spiegel entgegenreckten, erschien von dort eine Hand, durchbrach wiederum den Spiegel mittels eines Kristalls, der wie ein Magnet von den anderen angezogen wurde und verharrte. Es war ein eigenartiger Anblick, denn der Spiegel zersplitterte dabei nicht. Er ähnelte eher einer elastischen Folie, die dem Druck nachgibt und dabei so hochtransparent ist, dass man selbst diese gar nicht wahrnimmt.
Eine heftige Erschütterung erfasste den ganzen Saal, als wolle sich der Boden unter ihren Füßen um seine eigene Achse drehen und das Unterste zuoberst kehren. Die anderen Spiegel knirschten bedenklich, zwei auf der gegenüberliegenden Seite zerbarsten unter Klirren und erfüllten die Luft mit ihren feinen Splittern, die im Nebel verschwanden, der kniehoch den Boden bedeckte. Maurice fühlte, wie einige Splitter in seinen Haaren hängen blieben.
»Weiter! Aliénor, du darfst nicht aufgeben, komm!« Frédérics Stimme hatte einen merkwürdigen Ton angenommen.
Das Beben wiederholte sich, in kurzen Wellen durchzuckte es das Schloss.
»Helft ihr«, rief Valentine. »Alleine schafft sie es nicht. Ihr müsst sie herausziehen. Irgendeine Macht will verhindern, dass sie zu uns zurückkehrt!« Das erklärte allerdings die Kräfte, die dabei waren, alles zu zerstören.
Geistesgegenwärtig packte Emanuele mit der freien Hand Aliénor am Unterarm und begann zu ziehen. Maurice und Frédéric folgten seinem Beispiel.
Ein schmerzhafter Schrei erklang aus dem Spiegel, der sie kurz innehalten ließ. Dann zogen sie wie auf ein stilles Kommando mit aller Kraft, die metallene Folie zerriss , und es gelang ihnen, die Elfe aus dem Spiegel zu zerren, langsam, Stück für Stück, als stecke sie in einem zähen Sumpf fest. Bis endlich ihre zusammengefalteten Flügel zu sehen waren, ihre Füße , und schließlich war es geschafft , und sie sprang vor ihnen auf den Boden.
Maurice glaubte zu träumen, so groß und schön waren die Flügel, als Aliénor sie ausbreitete und schüttelte. Jedoch kam sie nicht allein. An ihrer anderen Hand zog sie ein Wesen hinter sich her, das transparent und doch körperhaft war, wie aus Glas, aber geschmeidig wie Wasser, ein wenig kleiner als Aliénor, und dieses trug ebenfalls einen leuchtenden Kristall mit sich. Die Konturen des Körpers waren nicht exakt umrissen, zunächst wirkte der Anblick verschwommen, doch mit jeder Minute verfestigte er sich ein wenig mehr. Obwohl die Durchsichtigkeit blieb, war nun die Gestalt eines etwa zehnjährigen Mädchens zu erkennen, das mit einem altertümlichen Gewand bekleidet war. Staunend schaute es von einem zum anderen.
Im selben Moment, da es mit seinen Füßen den Boden berührte, erbebte dieser ein letztes Mal, dann sammelte sich der Nebel in der Mitte des Saales und verschwand wie in einem schwarzen Loch. Erst jetzt wurde das ganze Ausmaß der feinen Spiegelscherben sichtbar. Bis in den letzten Winkel, wie ein glitzernder Zuckerguss, war der Boden damit bedeckt.
»Sie hat es geschafft, sie hat den Geist eines toten Kindes mitgebracht«, flüsterte Valentine an seinem
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