Valentine
Maurice starrte das Mädchen fassungslos an. Obwohl sie mager und blass aussah, erkannte er sie wieder. Bei der Geretteten handelte es sich tatsächlich um Aliénors beste Freundin. Laras Eltern hatten demzufolge einen leeren Sarg beerdigt. Die Vampirjäger hatten ihnen nicht gesagt, dass ihre Tochter vielleicht noch am Leben war. Wozu auch, die Hoffnung auf Rettung war gering.
Zuerst war Laras Miene ausdruckslos, dann lächelte sie schwach und murmelte einen Gruß. Früher hatte sie sich ganz anders gegeben, vor Übermut sprudelnd, quirlig und immer zu Scherzen aufgelegt. Sie und Aliénor hatten zusammen den Kindergarten besucht und die Schulbank gedrückt. Lara hatte ihre Freundin sogar da zu überredet, gemeinsam Jura zu studieren. Und letztlich war auch wieder Lara diejenige gewesen, die Aliénor zu den Eternal Romantics gebracht hatte, wie Maurice inzwischen wusste.
Aliénor s Hang zu mystischen Geschichten waren die Ideale der Gruppierung sehr entgegengekommen, die alte Traditionen, religiöse Symbole und mystische Handlungen zu einem romantisch-okkulten Mythos verbanden . Dazu gehörte auch das besondere Auftreten der Eternal Romantics, eine Mischung aus schwarzer Gothic-Kleidung, dunkelviolettem Samt und weinrotem Brokat, goldenen Applikationen, Hals- und Ärmelabschlüssen aus cremefarbener gestärkter Spitze bei den Mädchen, altmodischen Kniebundhosen bei den Jung en .
Die einschneidenden Erlebnisse bei den Unreinen hatten Lara verständlicherweise völlig verändert, auch äußerlich. War sie früher ein hübsches Mädchen mit schönem Teint und vollen Brüsten gewesen, so wirkte sie in ihrer jetzigen Verfassung völlig unattraktiv.
Hoffentlich war dieser Vampir einfühlsam und durch sein Alter erfahren genug, um geduldig auf sie einzugehen und ihr zu helfen. Emanuele beugte sich zu der jungen Frau herab, die gut einen Kopf kleiner war als er, und flüsterte ihr etwas zu. Daraufhin nahm sie auf einem der alten Stühle Platz , und er wandte sich erwartungsvoll an Frédéric.
»An welchem Spiegel wollen wir den Versuch wagen, Euer Gnaden?«
»Ich würde den nehmen, durch den sie verschwunden ist«, erwiderte Valentine an s telle ihres Bruders und musterte Lara besorgt. Diese hatte nur Augen für Emanuele. Ob sie begriff, was gerade vor sich ging, war ihrer Miene nicht anzusehen.
Die drei Männer postierten sich nebeneinander vor dem Spiegel. Maurice suchte die Gesichter seiner beiden Mitstreiter in der Refle x ion. Ernst und entschlossen trafen sich ihre Blicke. Sie rückten enger zusammen, streckten ihre Hände aus, so dass ihre Kristalle einander und zugleich das Spiegelglas berührten.
In einem leuchtenden Blitz vereinten sich die Strahlen zu einer Einheit und verursachten zusammen mit der Refle x ion im Spiegel ein Inferno des Lichts, dem niemand ohne zu blinzeln standhielt. Maurice fühlte einen stechenden Schmerz hinter den Augen, wie von einer glühenden Nadel.
Minutenlang geschah nichts. Da beide Vampire beharrlich schwiegen, zog auch Maurice es vor, nichts zu sagen, sondern darauf zu vertrauen, dass die beiden aufgrund ihrer Lebenserfahrung das Richtige machten. Die Zeit schien stillzustehen , und die Stille im Saal war ebenso quälend wie dazustehen und den Kristall hoch zu halten. Er war nicht schwer, dennoch spürte Maurice das Ziehen im Unterarm.
Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass der Glanz auf der Oberfläche und damit auch ihre Spiegelbilder verschwunden waren und er stattdessen in ein dunkles Nichts blickte. Der eben e Spiegel wirkte auf einmal dreidimensional wie ein Raum, in den man durch ein Fenster hineinsieht. Als seine Augen sich an die Veränderung gewöhnt hatten, erkannte er eine Art Flur von unendlicher Tiefe und schemenhaft zwei Gestalten, die sich näherten. Noch ehe er sich vergewissert hatte, dass es sich dabei um Aliénor handelte, trat Nebel aus dem Spiegel und hüllte sie alle ein.
Der Boden des Saales erbebte. Ein Spalt bildete sich gleich neben dem Spiegel in der Wand, setzte sich an der Decke fort und endete dort unter lautem Knacken in einem Delta dünner Risse. Plötzlich stoppte die Nebelzufuhr , und der Spiegel wirkte auf geradezu unheimliche Weise wieder leblos. Sie warteten, aber nichts geschah, rein gar nichts.
Dann erschien eine Handfläche und schlug von der anderen Seite gegen den Spiegel. Wieder und wieder.
Sie kann nicht raus, schoss es Maurice durch den Kopf , und er verspürte im selben Moment einen Stich, der von seiner Hand den
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