Valentine
überhaupt Zeit füreinander gefunden haben, während wir das Schönste und Aufregendste miteinander erlebten, was man sich vorstellen kann?
»Ich bin gemeint. Ich bin das Wesen, das eure Kräfte vereint.«
»Okay, und das heißt?«, fragte Maurice mit kratziger Stimme. Seine Hand drückte Valentines Finger fester zusammen.
»Ich – bin das Opfer der Versöhnung.«
»Was? Aliénor? Seid ihr alle übergeschnappt?« Maurice rutschte auf dem Sitz vor und schaute zwischen ihr und Valentine hin und her. Bestimmt erwartete er, dass wenigstens Frédéric widersprechen würde. »Das ist doch nicht euer Ernst.« Ruckartig ließ er Valentines Hand los.
Es gab nichts zu erwidern. Er würde begreifen, dass sie keine Wahl hatten. Natürlich würden sie versuchen, Aliénors Leben zu schützen, allen voran Frédéric, der sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte. Valentine war selbst verwundert, dass er dieses Risiko einzugehen bereit war. Niemand von ihnen wusste, wie wörtlich diese Zeilen zu nehmen waren, aber hatten sie eine Wahl?
Vielleicht war es auch gar nicht seine, sondern Aliénors Entscheidung gewesen. Oder die letzte Nacht und der Sturm hatten den Ausschlag gegeben. Oder … Wenn sie nichts unternahmen, würde die ganze Welt untergehen. Dagegen zählte ein einzelnes Leben nichts, nicht einmal das der Person, die man am meisten liebte. Kein Opfer war zu groß, um die Welt zu retten. Dabei war sie sich selbst nicht sicher, ob sie die Kraft aufbringen würde, ganz bewusst Maurice einem solchen Risiko auszusetzen.
Dieser schüttelte fassungslos den Kopf. »Nein.« Er lehnte sich zurück und verschränkte laut schnaubend die Arme vor der Brust. »Ohne mich. Ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber ohne mich. Ich mache dabei ganz bestimmt nicht mit.«
»Wir können es nicht ohne dich durchziehen. Wir brauchen dich und deinen Kristall!«, entgegnete Aliénor fordernd. »Dir bleibt keine Wahl.«
Wie sehr musste er s eine Cousine lieben, dass er dies über den Ernst der Lage stellte. Als Aliénor noch mehr dazu sagen wollte, hielt Frédéric sie davon ab. Er sprach so leise, dass Maurice, der mit grimmiger Miene aus dem Fenster starrte, ihn vermutlich nicht hörte. Aber er sprach laut genug für Aliénors und Valentines empfindsames Gehör.
»Gebt ihm Zeit! Er wird selbst begreifen.«
»Und warum erzählst du mir das alles erst jetzt, Frédéric?«, fragte Valentine ihn mittels Gedankenübermittlung.
»Du solltest noch einige unbeschwerte Stunden verbringen, ehe es los geht, Schwesterherz«, antwortete er.
Das war sehr fürsorglich von ihm. Trotzdem. Wie lange arbeiteten sie schon gemeinsam an der Entschlüsselung? »Aber warum jetzt ? Warum nicht nächsten Monat oder in einem halben Jahr?«
»Gegenfrage: Was für ein Tag ist heute?«
Sie überlegte. »Der fünfzehnte August, wieso?«
»Richtig. Und? Was geschah an diesem Tag anno zwölfhundertachtundvierzig?«
Kapitel 31
Keine vierundzwanzig Stunden später befanden sie sich wieder am selben Ort, zu Füßen des Kölner Doms. Nur setzte sich ihre Gruppe diesmal etwas anders zusammen.
Sturm und Beben schienen keine größeren Schäden am Dom hinterlassen zu haben, soweit das auf die Schnelle zu erkennen war. Da und dort waren ein paar Verzierungen am gotischen Maßwerk abgebrochen , und der Kopf eines Wasserspeiers lag zu Füßen der Fassade. Es hätte schlimmer kommen können. Die umliegenden Häuser waren nicht so gut davongekommen. Dächer waren abgedeckt, Fensterscheiben zerbrochen, Mauern aufgerissen.
Maurice hatte kein Wort gesprochen, seit sie den Wagen in einem Parkhaus abgestellt hatten und den restlichen Weg zu Fuß gegangen waren. Mit etwas Glück war das Parkhaus bis zu ihrer Rückkehr nicht eingestürzt und der Wagen noch einsatzfähig.
Wie fremdgesteuert folgte Maurice ihnen mit Abstand nach, stellte Valentine verärgert fest , als sie sich umblick t e. Wann würde er endlich aufhören zu schmollen? Dafür war wahrlich keine Zeit.
»Ich freue mich, Euch zu sehen«, richtete Emanuele mit einer angedeuteten galanten Verbeugung in die Runde seine Begrüßung an alle. Er war ohne Lara erschienen, dafür in Begleitung von Gestaltwandlerin Tiziana, Seelenkind Magdalena und Elf Nelrin. Angesichts der Ungewissheit, was genau ihnen jetzt bevorstand, waren alle zu angespannt, um unnötige Worte zu verlieren.
Nur zur Begrüßung zwischen Aliénor und Nelrin gehörte eine herzliche Umarmung, die Frédéric ein leises Knurren entlockte.
Weitere Kostenlose Bücher