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Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Titel: Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fitten
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Grund war zweifellos, dass sie Gefangene der Geschichte waren. Doch vor allem wussten sie – wussten es instinktiv   –, dass Städte und Dörfer mit einer tausendjährigenGeschichte ihre Langlebigkeit gewissermaßen einbüßten, wenn niemand mehr dort wohnte.
    Die ältere Generation, die die blutigen Dramen des zwanzigsten Jahrhunderts miterlebt hatte, vergaß zudem allzu gern, dass es noch eine Welt jenseits ihres Tellerrands gab. Und falls es diese Welt wirklich gab, hielt man sie sich am besten vom Leib. Wer wollte schon Scherereien? Eine Familie konnte in einem kleinen Dorf wohnen, wo die Kinder in Geborgenheit aufwuchsen. Zivatar war so ein Dorf. War es nicht genau das Dorf, in dem ihre Kinder landen wür den , wenn sie selbst Kinder großzogen? Natürlich. Warum also überhaupt fortgehen? Auch wenn es für Kinder und junge Leute vielleicht nicht genug dummen Zeitvertreib bot, gab es doch Arbeit für alle in Hülle und Fülle – was war also schon dabei, wenn man jeden Tag dieselben Gesichter sah. So ist die Dorfgemeinschaft: immer dieselben langweiligen Leute mit denselben langweiligen Geschichten. Wenn man glücklich oder erfolgreich sein wollte, musste man frühzeitig lernen, entweder alles widerstandslos hinzunehmen oder sich nicht darum zu kümmern.
***
     
    Dem Töpfer klangen Valerias letzte Worte noch im Ohr. Er dachte an das ungute Gefühl in der Magengrube, als sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Obwohl er seitdem Bauchschmerzen hatte, konnte er seinen Schwierigkeiten nicht ins Auge sehen. Er konnte nicht handeln und hatte keine Wahl getroffen. Seine Versuche, beiden Frauen aus dem Weg zu gehen, waren nicht von Erfolg gekrönt.
    Dass er Ibolya begegnete, ließ sich nicht vermeiden. Sie wohnte nun einmal ganz in der Nähe in derselben Straße. Wenn er irgendwo hinging, musste er an dem Mauerloch ihrer Kneipe vorbei und ihr guten Tag sagen.
    »O ja, schön, dich zu sehen.« Er radelte winkend vorbeiund stürzte fast vom Fahrrad. »Ich hab’s eilig. Ich muss zum Bürgermeister. Ja, ja. Ich besuch dich bald. Du siehst heute wunderschön aus, wirklich wunderschön.«
    Er hätte sich ohrfeigen können, dass er so mit ihr sprach. Wie sein Lehrling war er langsam auch der Meinung, dass kokette Schmeicheleien ihm nicht halfen. Er fragte sich, ob er sich beide Frauen nur warmhielt. Ob er sie nicht nur hinhielt, bis er eine Entscheidung getroffen hatte.
    Mit Ibolya erging es ihm schlecht und mit Valeria sogar noch schlechter. Nach seinem letzten Besuch in ihrem Häuschen liefen sie sich mitten auf dem Markt in die Arme, und zwar da, wo er Valeria zum ersten Mal begegnet war. Sie inspizierte wieder die Marktstände und machte den Marktfrauen besessene Vorhaltungen. Zwar hatte man den Eindruck, sie sei nachsichtiger geworden, als sie den Töpfer kennenlernte, aber jetzt war sie strenger denn je. Sie ließ sich die Gefühle nicht anmerken, doch zu Hause wurde sie leicht verrückt. Vor ihrer Begegnung mit dem Töpfer war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie spät im Leben noch eine Liebesaffäre haben könnte. Jetzt aber dachte sie an nichts anderes. Valeria wollte insgeheim oder vielleicht auch ganz offen, dass ein Mann zu ihr kam. Zuerst wollte sie, dass der Töpfer sie besuchte, doch nach einer Weile sah sie sich nach anderen Männern im Dorf um und stellte fest, dass die meisten wieder alleinstehend waren, dass ihnen der Tod Hörner aufgesetzt hatte. Sie fragte sich, ob sie genauso einsam waren wie sie. Das Verhältnis mit dem Töpfer hatte Valeria so weit verändert, dass sie darü ber nachdachte, warum sie die ganze Zeit so streitsüchtig gewesen war und nicht ein bisschen nachgiebiger. Kein Fußabstreifer, denn sie hatte ihre Prinzipien und Werte, aber nachgiebig. Sanfter und zugänglicher. Valeria überleg te , und der Gedanke daran, neben jemandem alt zu werden, statt nur die paar müden Tiere um sich zu haben, imGrunde ihre einzigen Freunde, erschien ihr durchaus vernünftig.
    Sie probierte also etwas Neues. Versuchsweise.
    Sie fing an, kurze Spaziergänge zu machen. Sie fing an, ins Dorf zu gehen und sich dort Kaffee und Kuchen zu genehmigen. Warum auch nicht? Warum hatte sie das nicht schon früher getan? Sie lächelte sogar die Leute an. Natür lich lächelte niemand zurück. Die meisten dachten, sie sei verrückt geworden, und gingen schnell an ihr vorbei. Trotzdem lächelte sie.
    Ich werde nicht jünger, dachte sie und lächelte einen älte ren Mann an, der die Straße entlangging. Es

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