Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)
jeden Tag mehr Aufträge bekommen.«
»Wozu mehr Aufträge?«
»Um Ihren Profit zu maximieren. Sie könnten leicht drei Kunden mehr pro Tag haben. Wenn Sie effizienter arbeiten.«
Der Schornsteinfeger lachte.
»Sie reden wie ein Kapitalist.«
»Tja, das bin ich auch. Ein Kapitalist. Und wenn Sie Ihren eigenen Betrieb haben, sollten Sie auch einer sein.«
»Pah«, erwiderte der Schornsteinfeger. »Ich doch nicht. Mir geht’s auch so gut. Genauer gesagt vermiss ich die alte Zeit. Da kannte ich mich noch aus. Ich wusste, was mich erwartete. Wir hatten alle mehr Sicherheit. Wissen Sie, jetzt habe ich Angst vor dem Alter. Wer kann es sich schon noch leisten? Früher hatten wir’s gut. Der Staat hat gut für uns gesorgt. Der Sozialismus hat funktioniert.«
»Was reden Sie da?«, sagte der Bürgermeister kopfschüt telnd . »Hören Sie zu, ich weiß, wo Sie herkommen. Ich war selber in der Partei. Alles mag jetzt schwieriger erscheinen, aber man kann gutes Geld verdienen. So viel man will. Die Freiheit hat man jetzt. Nichts steht einem mehr im Weg. Ich weiß, dass es für euch alte Hasen besonders schwer ist. Das versteh ich gut. Aber versuchen Sie doch mal, an die Zukunft zu denken. Betrachten Sie Ihr Leiden als Patriotismus, als patriotische Pflicht Ihrem Land gegenüber. Dasselbe hab ich gerade zu einem anderen Mann Ihrer Generation gesagt. Also wirklich. Das Land braucht Männer, die gewillt sind, sich das, was sie wollen, zu schnappen.«
Der Schornsteinfeger versuchte, ein Lachen zu unterdrü cken . Auf dem Land spielte sich fast überall dasselbe ab: Moderne Männer zerrten ihre Dörfer auf Teufel komm raus in die Welt des Kapitalismus und es kümmerte sie einen Dreck, wie viele alte Frauen plötzlich vor dem Markt betteln mussten. Es war diesen Männern völlig egal, dass eine ganze Generation – nämlich seine – sich nun selbst durchschlagen musste, und dies in einer Welt, in der man sie nicht schätzte und die sie nicht verstanden. Der Schornsteinfeger war dankbar für Ibolyas Auftrag. Nur ein einziges Mal, hatte er immer gedacht, nur ein einziges Mal wäre er gern derjenige, der einem dieser Mächtigen echtes Leid zufügt. Nur ein einziges Mal, dachte er bei sich, würde er gern einen Reichen zum Abendessen verspeisen und ihn dann bei der Zeitungslektüre wieder ausscheißen. Das wäre wirklich mal etwas anderes.
»Ich hab gehört, der Bahnhof ist fast fertig«, sagte er.
»Das haben Sie gehört?«, antwortete der Bürgermeister stolz. »Wunderbar. Zunächst mit nur einem Waggon. Wir nennen ihn den Inter-Bitty. Niedlich, oder? Fahrt mit dem klitzekleinen, little bitty Inter-Bitty! Wartet’s ab, er wird dieses Städtchen für immer verändern. Vielleicht könnten Sie mit dem Fahrrad drumherum fahren und wir machen Fotos.« Der Bürgermeister zwinkerte ihm zu. »Das bringt Glück. Eine tolle Gelegenheit, um Fotos zu machen. Wir veranstalten ein Blumenfest.«
***
Das Haus des Bürgermeisters, eine stuckverzierte Villa im amerikanischen Stil, befand sich ganz in der Nähe von Valerias Häuschen. Am Bürgersteig standen Buchssträucher, es gab einen Palisadenzaun und Zierbäume in Kübeln, die man im Winter ins Haus bringen musste, außerdem einen Rasen, den einzigen im Dorf. Er war gedüngt und frisch geschnitten,und mitten hindurch, vom Eingangstor bis zur Haustür, führte ein gepflasterter Weg.
An der Tür dieses Hauses stand eine junge Frau, die Bür germeisterfrau , die ein Silbertablett mit Plätzchen und Gin Tonics in der Hand hielt. Kaum hatte der Schornsteinfeger ihren kurzen Rock erblickt, ihre dünne Perlenkette und ihre weit aufgeknöpfte Bluse, ließ er den Bürgermeister stehen, sprang den Pflasterweg hinauf und fing an, der jungen Frau die Hüften zu tätscheln.
»Das bringt Glück, meine Liebe«, beteuerte er. »Glück.«
»Oh!«, sagte sie, wurde rot und klopfte ihm auf die Schultern. »Also, das muss mein Glückstag sein.«
Der Schornsteinfeger fuhr mit den Händen von ihren Hüften zu ihren Schultern und drückte sie.
»Ich würde sagen, es ist Ihr Glücksjahr! Oder meins. Sie sind meiner armen verstorbenen Verlobten wie aus dem Gesicht geschnitten! Sie hat immer auf meinem Schoß gesessen und sich von mir kämmen lassen. Gott, hab ich sie geliebt.«
Die Bürgermeisterfrau lachte nervös. Der Bürgermeister griff rasch nach einem Drink. Der Schornsteinfeger nahm sich ein Plätzchen. Er ging in ihr Haus, setzte sich und bekam ein Glas angeboten. Er trank, und die
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