Valhalla: Thriller (German Edition)
durch. »Zwölf Uhr. Es ist Zeit.«
»Ja, es ist Zeit.« Roberto straffte die Schultern. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Hannah kam es vor, als wäre er in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Gewiss, er war unrasiert, seine Haare waren verstrubbelt, und er litt unter Schlafentzug, aber da war noch mehr. Sie spürte, wie sehr ihn die Ereignisse belasteten. Das Wissen um die furchtbaren Experimente, die hier stattgefunden hatten, die permanente Bedrohung, die Angst, entdeckt zu werden, und vor allem das schreckliche Geheimnis, das hier unten lauerte – es war alles zu viel für ihn. Er war an seine Grenzen gelangt, und das konnte sie sehen.
Es tat ihr leid, ihn dem Ganzen auszusetzen, aber sie war sicher, dass er, wenn sie ihn fragen würde, weiterhin ohne Einschränkungen hinter ihr stand. Er war ihr Freund, und das würde er immer bleiben.
Hannah spürte die Last ebenfalls. Dass Wissenschaftler zu so schrecklichen Dingen fähig waren, belastete sie. Noch schwerer aber wog die Erkenntnis, dass die Menschen offenbar nicht fähig waren, aus der Vergangenheit zu lernen. Immer und immer wieder machten sie dieselben Fehler und gingen dabei sogar so weit, ihre eigene Spezies aufs Spiel zu setzen. Das war etwas, das sie an den Rand der Verzweiflung treiben konnte. Wann kam endlich der evolutionäre Schub, der den Schalter im Gehirn vom
Ich
zum
Wir
umlegte? Der es den Menschen ermöglichte, als Gruppe zu denken und zu agieren, und nicht als Individuen? Falls das geschehen sollte – und Hannah hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben –, dann hoffentlich möglichst bald, denn viel Zeit blieb der Menschheit nicht mehr.
Sie verließen den Umkleide- und Dekontaminationsbereich, überquerten einen weiteren Gang und sahen sich urplötzlich dem Herz der Station gegenüber: den Laboratorien. Klar gekennzeichnet durch rot gestrichene Türen, die im fahlen Schein der Energiesparlampen aussahen wie getrocknetes Blut. Darauf zu sehen das unverwechselbare Piktogramm, das überall auf der Welt den Eingang zur biologischen Hölle markierte. Ein stacheliges schwarzes Symbol auf gelbem Hintergrund, das Hannah immer an eine Dornenkrone erinnerte:
CAUTION BIOHAZARD .
Hier also wurde der tödliche Erreger erforscht. Hier wurde er bewertet und auf seine Verwendung als biologische Waffe getestet. Im Gegensatz zum Rest der Station waren sowohl das Labor als auch die angrenzenden Räume mit Glasscheiben versehen, durch die man von außen hineinschauen konnte. Das Halbdunkel im Inneren signalisierte, dass die Einrichtung momentan nicht genutzt wurde. Außer ein paar blinkenden Lichtern war alles ruhig.
Genau, wie John vorausgesagt hat. Vertrau ihm und mach weiter.
Hannah räusperte sich. »Hier ist es. Bist du bereit?«
»Und ob. Drück uns die Daumen, dass jetzt nicht irgendwo eine Alarmsirene anspringt.«
*
Innen war alles dunkel. John nahm seinen ganzen Mut zusammen und öffnete die Tür ein Stück weiter.
Warme, schweißgesättigte Luft schlug ihm entgegen. Kein Laut war zu hören. Kein Rascheln, kein Grunzen, kein Schnarchen. Der Lichtschein aus dem Gang fiel auf eines der Betten. Es war leer, genau wie die dahinter. Die Bettdecke war unordentlich zurückgeschlagen, so als ob eben noch jemand darin gelegen hätte. John betätigte den Lichtschalter, und eine Neonröhre flammte auf. Einen Moment lang stand er fassungslos da und starrte auf das, was er ohnehin schon vermutet hatte.
»Scheiße«, murmelte er, dann wandte er sich um und rannte zurück zu den anderen. Er hatte sie noch nicht ganz erreicht, als im Gang schlagartig alle Lichter aufflammten.
51
H annah stand vor den Gefrierschränken und blickte erwartungsvoll auf Roberto, der mit dem Bestandsverzeichnis in den Händen den Inhalt der einzelnen Depots durchging. Fünf Schränke, jeder einzelne mit mindestens 300 Proben bestückt – das war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
»Und?«
»Es ist nicht so einfach. Die Proben sind nach einem ziemlich komplizierten System angeordnet. Außerdem habe ich große Probleme mit dem Kyrillischen.«
»Vielleicht suchen wir am falschen Ort«, sagte sie. »Was wir brauchen, sind die alten Verzeichnisse. Die von den Deutschen.«
»Aber die Russen haben alles neu sortiert. Was nützen uns die alten Bestandsverzeichnisse, wenn wir nicht wissen …«
»Abwarten.«
Hannah ging in die Hocke und durchforstete den Aktenschrank nach etwas Brauchbarem.
Zwischen Robertos Brauen hatte sich eine steile Falte
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