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Valhalla: Thriller (German Edition)

Valhalla: Thriller (German Edition)

Titel: Valhalla: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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er in seinen Knochen. Das fehlende Sonnenlicht machte ihm nichts aus, er konnte auch während der Polarnacht gut sehen. Das bisschen Helligkeit, das tagsüber über den Himmel flimmerte, reichte zur Orientierung aus; ansonsten verfügte er über ein sehr gutes Gehör und eine noch bessere Nase. Er würde das Loch auch in kompletter Dunkelheit finden, denn es strömte einen geradezu unwiderstehlichen Geruch aus: den Duft nach Robbe. Ringelrobben, Bart- und Sattelrobben, Klappmützen mit ihren dicken Fettwülsten auf Stirn und Nasen – bei dem Gedanken an das saftige Fleisch lief ihm das Wasser im Maul zusammen. Jetzt, während der kalten Jahreszeit, waren die Löcher überlebenswichtig für die Robben. Sie mussten von Zeit zu Zeit zum Luftschnappen an die Oberfläche kommen, ehe sie wieder in die dunklen Tiefen des Meeres abtauchten. Jeder Eisbär hatte bestimmte Löcher, die er regelmäßig abklapperte. Manche waren ertragreich, an manchen ließ sich die Beute nur selten blicken. Dieses hier gehörte zu den besten. Mit ein bisschen Geduld, Cleverness und der richtigen Strategie gab es hier immer etwas zu holen.
    Der Eisbär war alt und erfahren. Seit vielen Jahren lebte er schon in dieser Gegend zwischen Land und Meer und hatte sein Revier bisher erfolgreich gegen alle Nebenbuhler verteidigen können. Nur selten verirrten sich männliche Konkurrenten hierher, dafür umso mehr Weibchen, die seine Größe und Stärke zu schätzen wussten. Allerdings war es jetzt schon lange her, dass das letzte Mal eine Eisbärin zu ihm gekommen war, aber es war auch noch keine Paarungszeit. Die Bärinnen waren zu dieser Jahreszeit längst in ihren Schneehöhlen und brachten ihre Jungen zur Welt. Erst wenn die Tage wärmer wurden und das helle Licht hoch am Himmel stand, würden sie wieder herauskommen und sich zu ihm gesellen.
    Er scharrte die letzten Eisreste mit seinen Klauen aus dem Loch, nahm dann eine windabwärts gelegene Position ein und wartete. Eine Höhle hatte er nicht, er brauchte keine. Er und seine Geschlechtsgenossen verbrachten das ganze Jahr draußen im Freien.
    Stocksteif, wie zu einem Schneehaufen erstarrt, wartete er auf das Eintreffen der ersten Robbe. Sein dichtes Fell schützte ihn vor den eisigen Winden und machte ihn gleichzeitig unsichtbar. Ihm selbst war es schon passiert, dass er auf seinen Wanderungen einem Artgenossen begegnet war, den er erst im letzten Moment als solchen erkannt hatte. Wenn das Licht schwach war und der Wind ungünstig stand, war das weiße Fell nicht von umliegenden Schneehaufen zu unterscheiden. Dann konnte man nur hoffen, dass man die beiden schwarzen Augen oder die schwarze Nase rechtzeitig erkannte und so einem Tatzenhieb entging.
    Seine Gedanken waren jetzt ganz auf die Jagd gerichtet. Eins mit seiner Umgebung werdend, richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf das Loch. Dabei hatte er es nicht eilig. Der letzte erfolgreiche Beutezug lag erst wenige Tage zurück, und es bestand keine dringende Notwendigkeit, zu fressen. Wenn es sein musste, konnte er über eine Woche ohne Nahrung überleben, allerdings war das nicht sehr angenehm. Die eisigen Temperaturen forderten dem Körper viel ab. Wer nicht fraß, fror – und wer zu lange fror, starb irgendwann. Deswegen war es immer besser, zu viel im Magen zu haben als zu wenig. Sobald ein Kopf in der Öffnung erschien, musste es schnell gehen. Roben konnten nicht besonders gut sehen. Ihre Ohren und Nasen benötigten eine Weile, um sich nach dem Auftauchen zu orientieren. Diese Zeitspanne musste er nutzen, um sich auf die Beute zu stürzen, sie zu packen, aus dem Wasser an die Oberfläche zu zerren und mit gezielten Prankenhieben zu töten. Was danach kam, darauf freute er sich am meisten. Die Schnauze in das noch warme Fleisch drücken und Fett, Muskeln und Innereien in sich hineinschlingen, bis er nicht mehr konnte. Meistens wurde er dabei von anderen Robben beobachtet, die den Tod ihres Artgenossen nutzten, um aufzutauchen und angstfrei und ungestört Luft zu schöpfen. Sie wussten, dass er ihnen nichts antun würde, solange er fraß. Er jagte immer nur so viel, wie er in einem Stück fressen konnte, denn was übrig blieb, war nach kürzester Zeit hartgefroren und nicht mehr verzehrbar.
    Aber still jetzt, es tat sich etwas im Wasser. Luftblasen stiegen auf und kräuselten die Oberfläche. Verhaltenes Geplätscher drang an seine Ohren, dann ein tiefes Glucksen.
    Sie kamen.
    Er machte sich sprungbereit. Nur noch wenige Augenblicke.

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