Valhalla: Thriller (German Edition)
Ohr an ihren Mund. Eine Weile passierte nichts, dann ertönte ein zweiter Schrei. Doch diesmal klang er anders. Erleichtert, befreit. Ein Freudenschrei.
In der Filmaufnahme veränderte John seine Position, und zum ersten Mal konnte Hannah erkennen, wen er da im Arm hielt.
Sie selbst.
Sie sah furchtbar aus. Die Haare blutig am Kopf verklebt, die Augen geschlossen und die Lippen zusammengepresst, die blasse Haut über und über mit blauen Flecken, Kratzern und Schürfwunden bedeckt. Wie eine Wasserleiche, die man soeben aus einem Fluss gezogen hatte. Über ihr ragte drohend das Tor auf. In diesem Moment passierte das, worauf sie so lange gewartet hatte. Ihre Hände verkrallten sich in der Tischkante, und sie musste ein paar Mal heftig ein- und ausatmen. Die Erinnerungen brachen wie eine Sturzflut über sie herein. Bilder, Worte, Geräusche. Die Flut von Informationen kam so geballt, dass ihr Verstand aussetzte. Sie sprang auf, rannte hinüber zum Waschbecken und übergab sich. John war sofort bei ihr.
»Alles in Ordnung, mein Schatz?«
Sie spürte seine Berührung und übergab sich ein weiteres Mal. Die Galle schoss ihr durch die Nase. Sie musste husten. Nach Luft ringend, versuchte sie, ihren rebellierenden Magen unter Kontrolle zu bringen. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, ehe es vorbei war.
»Geht’s wieder?«, fragte John.
»Tut mir leid … «, keuchte sie und nahm einen Schluck Wasser aus dem Hahn. »Es war nur …«
»Du brauchst mir nichts zu erklären. Ich weiß genau, was du fühlst. Glaube mir, in dem Moment ging es mir auch nicht besser. Aber ich war so erleichtert, dich lebend wiederzufinden, du kannst es dir gar nicht vorstellen. Ich …«
»Ich kann mich wieder erinnern«, sagte sie. »Es ist alles wieder da.«
»Im Ernst?«
Sie nickte. »Der Auftrag, die Ruinen, die Leute. Ich erinnere mich an das Tor. Der Erreger ist von dort gekommen.«
»Das Blut an deinem Körper war nicht dein eigenes«, sagte John. »Es stammte von einer Vielzahl von Personen.«
»Hämorrhagisches Fieber«, sagte Stromberg, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten hatte. »Es bringt Organe dazu, sich aufzulösen, und führt zu Mikroblutungen an der Hautoberfläche. Schlimmes Zeug. Ganz schlimmes Zeug.«
Hannah musste daran denken, was ihrem Kind bevorstehen würde. »Konnte der Erreger denn inzwischen isoliert werden?«, fragte Hannah. »Professor Hansen sagte mir, dass man ihn bisher noch nicht habe finden können, weil er sich aufgelöst habe. Aber da unten muss er noch sein.«
»Nichts«, sagte Stromberg und schüttelte betrübt den Kopf. »Alles, was wir haben, ist die veränderte Form, die wir aus den Leichen bergen konnten. Aber die ist nutzlos, weil sie ja bereits durch den Kontakt mit menschlichem Erbgut kontaminiert worden ist oder sich gar aufgelöst hat.«
»Der logische Schluss müsste demnach lauten, ein Team zurück in die Anlage zu schicken, das Labor der Deutschen ausfindig zu machen und den Krankheitserreger an der Quelle zu isolieren.«
»Das wäre der logische Schritt, ja«, sagte Stromberg. »Wenn man die Verantwortung für sich und andere Menschen als ein hohes und schützenswertes Gut erachtet. Es gibt da nur ein klitzekleines Problem: Nicht alle denken so. Manche sehen darin nur eine neue Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ein Erbe, das uns der Kapitalismus beschert hat. Und obwohl ich selbst durch den Kapitalismus reich und mächtig geworden bin, so ist dies eine Facette, auf die ich nicht stolz bin. Manche Menschen gehen – um es mal umgangssprachlich auszudrücken – über Leichen.«
Hannah runzelte die Stirn. »Wovon reden wir hier?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte John.
Stromberg zuckte die Schultern und seufzte. »Was soll’s, ihr werdet es sowieso erfahren. Spitzbergen ist für uns tabu. Keine Einreise mehr für ausländische Forschungsteams. Ist vorgestern durch die internen Kanäle gesickert. Der gesamte Bereich rund um das Sprengloch wurde zur Sperrzone erklärt. Niemand darf da rein oder raus. Niemand, außer den neuen Herren von Nordostland.«
»Den Norwegern?«
Stromberg schüttelte den Kopf. »Den Russen.«
20
Spitzbergen …
D er Eisbär kauerte vor dem Loch und wartete. Über eine Stunde hatte er jetzt damit verbracht, die alte Öffnung vom Eis zu befreien, und sein Hunger war stärker geworden. Das Wetter hatte sich beruhigt, dafür waren die Temperaturen deutlich abgesunken. Schon bald würde neuer Schneefall einsetzen, das spürte
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