Valhalla: Thriller (German Edition)
hatten sich ihre Kleidung vom Körper gerissen, was ziemlich befremdlich aussah. Die nackten Leiber verliehen der Szenerie eine geradezu biblische Symbolhaftigkeit. Hannah fühlte sich an Bilder von Hieronymus Bosch oder Hans Holbein erinnert, Bilder, die sie in ihrer Kindheit in der elterlichen Kunstbuchsammlung entdeckt hatte. Sie machten ihr Angst und hinterließen bei ihr neben einer morbiden Faszination einen tiefsitzenden Schrecken. Allerdings war das, was sie hier sah, um einiges schlimmer. Das körnige Licht der elektrischen Lampen enthüllte deformierte Leiber, denen alle Menschlichkeit entrissen worden war. Blutüberströmte, verdrehte Körper mit weit aufgerissenen Mündern und Gesichtern, denen Augen oder Ohren fehlten. Sie sah gebrochene Knochen, aufgeschlitzte Hälse und geplatzte Bäuche, aus denen die Innereien quollen. Nichts entging der digitalen Linse, die mit ihrer hochauflösenden, unbestechlichen Optik gleichsam zum Beobachter und Chronisten dieses arktischen Schreckensszenarios wurde.
Hannah spürte, wie ihr Herz in der Brust hämmerte. Ihr Puls war auf ein gesundheitsgefährdendes Maß angestiegen. Sie hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Übelkeit bahnte sich ihren Weg die Speiseröhre hinauf. Den Männern des Recon-Einsatzteams schien es nicht besserzugehen. Einer von ihnen sackte vor laufender Kamera zusammen und schlug seine Hände vors Gesicht. Er schien sich in seinen Anzug übergeben zu haben und wurde schnell aus dem Bild gezerrt. Aufgeregte Stimmen erklangen. Da es zu gefährlich war, den Helm abzunehmen, vermutete Hannah, dass er nach oben gebracht wurde.
Erst jetzt fiel Hannah auf, wie still es inzwischen geworden war. Keine Motorengeräusche, kein Sturm, kein Summen von elektrischen Aggregaten oder anderen Geräten. Dass das Mikrofon dennoch seine Arbeit verrichtete, erkannte man an den verhaltenen Stimmen, dem Rascheln der Anzüge oder einem gelegentlichen unterdrückten Stöhnen.
Wieder stoppte das Bild. John sah jetzt wirklich besorgt aus.
»Bitte, Hannah. Warum tust du dir das an? Ich kann doch sehen, wie schlecht es dir geht. Die nächsten Minuten zeigen kaum andere Bilder. Tatsächlich wird es noch schlimmer. Denk daran, was du unserem Kind damit antust. Es bekommt deine Emotionen voll ab. Willst du wirklich, dass es deine Furcht teilt?«
»Du hast recht«, erwiderte Hannah. »Ich habe nicht geahnt, dass es
so
schlimm werden würde. Von mir aus kannst du Teile der Aufnahme überspringen. Was ich aber gerne noch sehen würde, ist, wie du mich gefunden hast. Wo bin ich? Zwischen all diesen Toten oder wo …?«
»Wir fanden dich etwas weiter stadteinwärts.« John war sichtlich erleichtert, dass Hannah endlich ein Einsehen hatte, und spulte schnell vor. Dann ließ er die Aufnahme bei Minute 05:31 weiterlaufen. Das Kamerabild war deutlich verwackelter als zuvor. John, der die Aufnahme gemacht hatte, bewegte sich schneller und hektischer. Ganz offensichtlich suchte er etwas – oder jemand. Hannah hörte unterdrücktes Schluchzen und gemurmelte Worte. Was war das, ein Gebet? John hatte mit Kirche und Religion eigentlich nichts am Hut. Sie fragte ihn nicht danach, denn sie wollte ihn nicht verletzen. Er bog um die nächste Hausecke, und da sah sie es: ein großes doppelflügeliges Tor. Es prangte inmitten einer massiven Wand, die sich vom Boden bis in mindestens vier Meter Höhe erhob. Davor lagen drei verkrümmte Leichen, zwei von ihnen über und über mit Blut besudelt. Sie schienen es regelrecht ausgeschwitzt zu haben, denn es sah aus, als wäre es aus jeder Pore ihre Körpers gedrungen. Auch sie wiesen die üblichen Verletzungen und Verstümmelungen wie die anderen auf, waren im Gegensatz zu ihnen aber bekleidet, wofür Hannah im Stillen dankbar war. Die dritte Leiche war nicht ganz so schlimm zugerichtet. Verkrümmt und in sich zusammengesunken, lag sie am Fuß des Tores, die Hand in Richtung der offenen Tür ausgesteckt. Es sah so aus, als wollte sie nach etwas greifen oder zumindest darauf deuten. In diesem Moment ertönte ein Keuchen aus dem Lautsprecher. Es gab ein Krachen, die Kamera fiel zu Boden, lief aber dennoch weiter. Auf der Seite liegend dokumentierte sie, wie ihr Besitzer auf die zusammengekrümmte Gestalt zulief.
»Hannah, oh Gott, nein!«
Durch das matte Glas des Schutzanzugs sah sie Johns Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er neben der Person auf die Knie sank und ihren Kopf anhob. Er beugte sich zu ihr hinunter und hielt sein
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