Valley - Tal der Wächter
Mitte der Halle. »Ehe der verehrte Rat seine Entscheidung fällt, darf man ja wohl alles vorbringen, was zur Klärung des Falles beiträgt, oder irre ich mich da?«
Die Oberschiedsherrin nickte. »Das ist richtig.«
Hord Hakonsson rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. »Was soll das, Ragnar?«
»Warte, Vater, du wirst es gleich erfahren. Ich möchte eine Gegenanklage vorbringen. Und zwar geht es ebenfalls um einen Mord. Um einen Mord, der – allermindestens – jedes Unrecht, das den Svenssons widerfahren ist, ausgleicht. Ich spreche vom Tod meines Onkels Olaf. Macht euch auf eine Überraschung gefasst – ich bin meiner Sache sicher!« Er sah Hal unverwandt mit blitzenden Augen an. »Sein Mörder sitzt hier unter uns.«
Bei Ragnars Worten schnappten mehrere Schiedsleute hörbar nach Luft, und der eine oder andere Stuhlsitz knarrte, als das darauf platzierte Hinterteil mit neuer Aufmerksamkeit zurechtgerückt wurde. Hord Hakonsson schien genauso verblüfft wie alle anderen und versuchte, seinem Sohn unter wildem Gefuchtel den Mund zu verbieten, doch der beachtete ihn gar nicht.
Die Oberschiedsherrin sagte in ernstem Ton: »Für so eine schwere Anschuldigung musst du aber handfeste Beweise vorlegen können.«
»Die kann ich gern liefern.« Ragnar verbeugte sich vor dem Rat und ging noch weiter vor, bis in die Mitte der Halle.Von dort aus sprach er Hal direkt an, der bleich und reglos auf seinem Platz saß. »MeinVater«, begann Ragnar mit sanfter Stimme, »kann nicht mehr so schnell laufen wie ich. Er brauchte eine Weile, bis er unsere große Halle durchquert hatte und zum Fenster gelangt war. Darum hat er nichts mehr gesehen. Ich schon! Und ich weiß Bescheid.«
»Rechtlich gesehen sind deine Worte trotzdem noch reichlich unbestimmt«, rief Ulfar Arnesson. »Könntest du übrigens ein bisschen lauter sprechen? Was du da vorträgst, ist ausgesprochen interessant.«
Ragnar lächelte verkniffen. »Ich glaube, Hal Svensson hat mich sehr gut verstanden.«
Hal erinnerte sich der strengen Anweisungen seiner Mutter, blieb ruhig sitzen und erwiderte nichts.
Jetzt ging Ragnar mit langen Schritten auf ihn zu und rief: »Seht ihr? Die Schuld lässt ihn verstummen! Als sei der Geist meines Onkels der Erde entstiegen und hätte ihm die blutbefleckte Hand auf die bucklige Zwergenschulter gelegt. Das sieht man doch auf den ersten Blick, dass...«
Hal schüttelte die begütigende Hand seiner Mutter ab und sprang auf. Er hielt es nicht für angebracht, noch länger zu schweigen. »Entschuldige mal«, sagte er, »aber ich war eben so verdutzt, dass es mir die Sprache verschlagen hat. Bei euch Hakonssons mag es ja neben Kühe küssen und sich im Sumpf wälzen ein beliebter Zeitvertreib sein, sich alberne Rätsel auszudenken, aber ich persönlich kann dem nichts abgewinnen. Also sprich deutlich oder halt die Klappe!«
Von den Schiedsleuten schauten einige missbilligend, doch die meisten nickten zustimmend. »Schluss mit dem Geschwafel!«, rief die Alte von den Gestssons. »Jetzt kommt mal zur Sache!«
Ragnar nickte. »Bitte sehr. In der Nacht, als mein Onkel verbrannte, wurde ein Eindringling dabei gesehen, wie er aus dem Haus flüchtete.Wir haben ihn meilenweit verfolgt, doch letztlich ist er entkommen. Das alles ist talauf, talab wohlbekannt.«
»Richtig«, rief Ulfar, »aber wer der Schuft nun gewesen ist...«
»Das kann ich euch verraten. Hal Svensson ist der Schuft.«
Allgemeiner Aufruhr. Hord Hakonsson erhob sich von seinem Stuhl, ebenso mehrere Schiedsleute. Alles wandte die Köpfe nach Hal, nur die alte Gestsson nicht, die schaute in die andere Richtung. Hal spürte, wie seine Mutter zusammenfuhr, und hörte seinen Bruder Leif leise fluchen. Ihm selbst zog sich der Magen schmerzhaft zusammen, aber er behielt seine unbekümmerte Miene bei und schaute so gelassen wie möglich in die Runde. Dann trat er selbstbewusst vor. »Hat Ragnar irgendwelche Beweise für diese absurden Anschuldigungen?« Er lächelte. »Wohl kaum. Es handelt sich offensichtlich um einen plumpen Versuch, sich um die Entschädigung für den Mord an Brodir zu drücken – typisch Hakonsson!«
Ragnars Antwort ging in Hords Wutgebrüll, Astrids und Leifs warnenden Rufen und den Unmutslauten der Begleiter beider Häuser unter, auch etliche Ratsmitglieder ließen sich dazu hinreißen, in das allgemeine Geschrei einzustimmen. Die alte Gestsson war aufgestanden und fuchtelte mit erhobenem Stock herum, während Helga Thordsson mit einer Lautstärke
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