Valley - Tal der Wächter
grausigen Einzelheiten aussparte. Nicht ein Mal schielte er auch nur aus dem Augenwinkel zu den Hakonssons hinüber. Als er fertig war, beantwortete er ein, zwei kurze Fragen, dann forderte man ihn auf, sich wieder zu setzen. Seine Mutter tätschelte ihm anerkennend das Knie.
Die Ratsvorsitzende nickte. »Danke. Jetzt wollen wir die Angeklagten hören. Hord Hakonsson, was hast du dazu zu sagen?«
»Jetzt wird’s spannend«, raunte Hals Mutter. »Ich glaube nicht, dass er die Tat abstreiten kann, dafür sind die Beweise zu eindeutig.«
Hord stand auf, hüstelte und verbeugte sich. Er sprach in ruhigem, respektvollem Ton, wodurch er ganz offensichtlich zum Ausdruck bringen wollte, dass er die Überlegenheit des Rates anerkannte. Zu Hals Verwunderung entsprach seine Schilderung mehr oder weniger der Wahrheit. »Trotzdem muss das, was mein verstorbener Bruder getan hat, in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden«, sagte er. »Man darf nicht vergessen, dass dieser brutale Trunkenbold, der uns derart schwer beleidigt hat, derselbe ist, der seinerzeit in unserem Haus ein Verbrechen begangen hat und straffrei ausgegangen ist.«
Astrid sprang auf. »Von wegen straffrei! Der Fall wurde damals verhandelt und unser Haus hat eine Menge gutes Land eingebüßt!«
Helga bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Astrid hat recht, Hord. Dein Handeln und deine Worte deuten an, dass die Angelegenheit als fortdauernde Ehrenfehde einzuschätzen ist und nicht als gewöhnlicher Mordfall. Fehden sind aber verboten, wie du sehr wohl weißt. So ist es seit der Zeit der Helden. Seither sehen wir von solchen altmodischen Racheakten ab.«
Hord knirschte mit den Zähnen, aber er neigte demütig den Kopf. »Wie du meinst.«
Es wurden noch einige andere Zeugen vernommen, aber die Anhörung war bald zu Ende. »Der Fall ist klar«, befand Helga. »Wir werden unser Urteil in Kürze verkünden. Aber vorher wüsste ich noch gern, welche Entschädigung die Kläger fordern, falls wir zu ihren Gunsten entscheiden.« Sie blickte Hals Mutter fragend an.
Astrid stand wieder auf und verbeugte sich. »Für uns ist es eine Grundsatzfrage, es geht uns nicht um irgendeinen Gewinn. Wir haben einen geliebten Onkel, Bruder und Freund verloren... Wir verlangen zwölftausend Morgen und keinen Grashalm weniger.«
Im Lauf der Verhandlung war Hal auf seinem Stuhl immer mehr zusammengesackt. Jetzt kam man endlich zum entscheidenden Punkt, dem eigentlichen Anlass der ganzen Verhandlung. Land und Einfluss! Gerade weil sich seine eigenen Rachevorstellungen als falsch erwiesen hatten, verachtete er dieses Geschacher jetzt umso mehr. Hier ging es gar nicht um seinen Onkel, sondern um Macht. Und was war mit der Ehre? Mit familiärer Verbundenheit? Ja, was war mit Zuneigung und Liebe? Aud hatte recht: Er hatte hier im Tal nichts mehr verloren.
Der Rat klärte mit Astrid und Hord noch ein paar Einzelheiten hinsichtlich der Entschädigung. Der wartende Hal musste noch einmal an Aud denken, an ihre Fluchtträume, ihre Angst vor einer Vernunftehe... Wie schlecht es ihr jetzt wohl ging, wo ihr ein ganzer Winter, ja vielleicht ein ganzes Leben an Ragnar Hakonssons Seite bevorstand? Bei der bloßen Vorstellung stieg ihm das Blut in den Kopf und sein Atem ging schneller. Sein Blick glitt umher, bis er schließlich gleich gegenüber an Ragnar Hakonsson hängen blieb. Ragnar erwiderte den Blick hasserfüllt. Hal sah nicht weg. Ihre Blicke bohrten sich ineinander, fochten unbemerkt von den anderen Zuschauern einen stummen Kampf miteinander aus. Unterdessen feilschten ihre Eltern in geschäftsmäßigem Ton, wogen die Vorzüge bestimmter Felder und Herden ab, die Ratsmitglieder mischten sich ein, machten Vorschläge und beriefen sich auf vergleichbare Fälle. Es ging um einen Rechtsstreit, der mit rechtlichen Mitteln beigelegt werden sollte. Der Mord an Brodir würde bald vergessen sein, der Streit zwischen beiden Häusern beigelegt... Nur Ragnar und Hal saßen reglos da und starrten einander an, maßen sich mit bloßer Willenskraft wie zwei junge, kämpfende Hirschböcke, mal wich der eine ein Stückchen zurück, mal der andere, aber keiner von beiden gab nach.
Helga Thordsson hob die Stimme ein wenig, sodass in der ganzen Halle die Bierbecher auf den Tischen schepperten. »Wir wären dann so weit. Lasst uns das Urteil verkünden.«
»Augenblick, bitte!« Das war Ragnar Hakonsson. Ohne den Blick von Hal zu nehmen, stand er unvermittelt auf und ging ein Stück weit in die
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