Valley - Tal der Wächter
beobachtete, fiel ihm auf, wie ausgesprochen anpassungsund wandlungsfähig sie war. Er kannte sie unverblümt und skeptisch, aber in Leifs Gesellschaft gab sie sich mädchenhaft und verspielt, fast schon kokett. Astrid gegenüber war sie wiederum zurückhaltender, eine bescheidene, für jede Anregung dankbare junge Dame.
Schließlich begegneten sie sich zufällig in dem kleinen Flur hinter der Halle.
»Wo steckst du bloß die ganze Zeit?«, fragte Aud. »Wenn Leif mir noch eine einzige sterbenslangweilige Geschichte über Sven erzählt, ersteche ich ihn mit meiner Haarnadel. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass du mich rettest.«
»Tut mir leid.« Hal lächelte sie verunsichert an. »Äh … ich bin froh, dass du doch noch zu uns gekommen bist. Zwischendurch hieß es ja, du würdest den Winter bei den Hakonssons verbringen.«
Aud verdrehte die Augen. »Puh! Das hatte sich mein grässlicher Vater ausgedacht. Er und Hord waren sich da ziemlich einig, glaube ich. Kannst du dir vorstellen, dass ich Ragnar heirate? Der Kerl ist so ein langweiliger Schwächling! Wenn die beiden versucht hätten, mich dazu zu zwingen, wär ich weggelaufen oder hätte mir vorher die Kehle durchgeschnitten – oder mich ertränkt. Aber dann kam es ja, Arne sei Dank, zu dem großen Streit bei den Rurikssons.« Sie pikte Hal mit dem Finger schmerzhaft in den Arm. »Ich glaube, das habe ich dir zu verdanken, stimmt’s?«
»Na ja, eigentlich war es Ragnar, der...«
»... dich gesehen hat, als du ihre Halle abgefackelt hast. Jawohl. Ehre, wem Ehre gebührt, Hal. Du hast wirklich eine Begabung dafür, Frieden und Freundschaft zwischen zwei Häusern zu stiften. Aber das war in diesem Fall ausnahmsweise mal vorteilhaft – jedenfalls für mich.«
Hal seufzte. »Leider bist du die Einzige, die das so sieht. Hord hat geschworen, sich an mir zu rächen, und hier sind alle davon überzeugt, dass ich ein kaltblütiger Mörder bin, und behandeln mich deshalb mit Angst und Ablehnung, das wirst du noch merken.«
»Ja, ja, Leif hat mich schon dreimal vor dir gewarnt.« Sie lachte. »Ich glaube, er ist bloß eifersüchtig. Und sorg dich nicht wegen Hord. Der ist doch nur ein Angeber, ein Großmaul.«
»Ich weiß nicht... Er ist schon jemand, der nicht davor zurückschreckt, seine Worte auch in die Tat umzusetzen.« Hal zog Aud auf die Seite, als Eyjolf und ein anderer Diener vorbeigeeilt kamen. Eyjolf musterte die beiden im Vorübergehen eindringlich. »Aber das ist mir ziemlich schnurz«, fuhr Hal mit gesenkter Stimme fort. »Nächstes Jahr kann Hord machen, was er will, denn bis dahin sind wir längst über alle Berge.«
Auds Augen funkelten. »Heißt das, du hast dich mit meinem Vorschlag angefreundet? Du fürchtest dich nicht mehr vor den Trolden?«
»Lieber sollen mich die Trolde fressen, als dass ich mein ganzes Leben in diesem Haus verbringe! Es steht mir bis oben hin und alle seine Bewohner genauso. Eigentlich das ganze Tal. Wie sieht’s bei dir aus?«
»Mein Vater will mich auf alle Fälle im kommenden Sommer verheiraten, egal mit wem.Wenn es nicht Ragnar ist, dann irgendein anderer sabbernder Langweiler. Klar bin ich noch dabei! Ich würde am liebsten gleich heute aufbrechen, aber das Wetter...«
»Jetzt nach dem Kälteeinbruch ist es unmöglich. Wir müssen warten, bis es taut.« Hal grinste. »Aber keine Sorge. So bleibt dir noch genug Zeit, alles über unser Haus und unseren Helden zu erfahren. Leif wird schon dafür sorgen, dass du dich bald hervorragend damit auskennst.«
»Oje, das wird ein langer Winter!«, seufzte Aud.
In dieser Nacht brach das Unwetter los. Garstige Windböen umtosten das Haus, ließen die Fensterläden klappern und bliesen die Kerzen in den hintersten Winkeln der Halle aus. In den Gängen heulte der Wind die ganze Nacht. Am nächsten Morgen war das Licht weiß und trüb, der Hof unter knietiefem Schnee begraben. Die Felder unterhalb der Mauern waren eine einzige, wellige Fläche, die an Hochwasser erinnerte.
Von da an gönnte ihnen der Winter keine Atempause mehr. Die Schneestürme setzten ein. Die Menschen waren wie Vieh in ihre Häuser gepfercht, in allen Kaminen loderten Torffeuer, Rauchschwaden waberten um die Dachbalken der großen Halle. Jeden Tag schaufelten die Männer Wege zwischen den Gebäuden frei. Wenn sie wieder hereinkamen, hingen glitzernde Eiszapfen in ihren Bärten.
Aud hatte sich bald in den häuslichen Alltag eingefunden. Sie webte, half in der Küche, fütterte das Vieh und die
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