Valley - Tal der Wächter
traut man sich ja nicht mal, sich die Stiefel zuzubinden, weil sie einem womöglich gleich die Kehle durchschneiden!«
Hals Auftauchen war offenbar nicht unbemerkt geblieben, denn mit einem Mal legte sich Schweigen über die Halle wie ein Mantel. Ein, zwei Leute husteten, sonst war alles still.
Gudny schielte zu den Vorhängen hinüber und kniff die Lippen zusammen. »Wo bleibt Leif bloß?«
Hal zuckte die Achseln. »Der steckt wahrscheinlich noch mit dem Kopf in der Tränke.«
»Das hat uns noch gefehlt! Geh du hoch, Hal, und rede mit ihnen.«
»Ich? Mich können sie nicht ausstehen! Wenn ich das Podest betrete, gibt es einen Aufstand.«
»Wir können jedenfalls nicht warten, bis...«
Da wurde der Vorhang zurückgeschlagen. Aus dem dunklen Flur trat Leif mit gerötetem Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Das triefnasse Haar hing ihm in die Stirn. Die matte Helligkeit, die sich durch die Fenster stahl, blendete ihn, und er musterte die Versammelten mit zusammengekniffenen Augen. Dann stieß er einen unterdrückten Fluch aus, stapfte ohne ein Wort der Begrüßung an Hal und Gudny vorbei, sprang die Stufen hoch, marschierte quer über das Podest zu den Richterstühlen und setzte sich auf Arnkels Platz.
Leif strich sich das Haar aus dem Gesicht und schob energisch das Kinn vor. Er räusperte sich, straffte die Brust und öffnete den Mund.
Da rief jemand aus der Menge: »Du bist nicht unser Oberhaupt! Geh von dem Stuhl runter!«
»Arnkel ist noch am Leben!«, rief ein anderer. »Es bringt Unglück, wenn du seinen Platz einnimmst!«
»Wo ist Arnkel? Er soll zu uns sprechen! Wo ist Astrid?«
»Los, steh auf!«
Erst blieb Leif trotzig sitzen, aber als der Protest immer lauter wurde und seine Versuche, etwas zu sagen, ungehört blieben, stemmte er sich aus dem Stuhl hoch und trat mit finsterer Miene an den Rand des Podests. Der Tumult legte sich.
Leif schüttelte verächtlich den Kopf. »Vielen Dank! Ich darf euch daran erinnern, dass ich das Familienoberhaupt vertrete, weil mein Vater sterbenskrank ist, und ihr tätet gut daran, eurem Anführer mit etwas mehr Respekt zu begegnen, vor allem in dieser schwierigen Lage. Ich weiß ja, weshalb ihr hier seid. Gewisse Gerüchte haben die Runde gemacht und wir müssen uns damit befassen. Aber euer Aufzug ist wirklich übertrieben!« Er deutete auf die kunterbunte Waffensammlung. »Wo ist der Mann, der das Ganze verursacht hat? Es soll ein Fremder sein... Ach, du bist das? Komm her.«
Schwerfällig und widerwillig und erst nach ein, zwei Schubsern von Hal stapfte der kauende Snorri das Treppchen zum Podest hoch. Bei Tageslicht und ohne Mantel sah man, dass seine Kleider nur noch aus von Schmutz zusammengehaltenen Lumpen bestanden. An manchen Stellen waren mehr Löcher als Stoff. Ohne Eile und irgendwelche Förmlichkeiten ging der Alte zu Leif, der mit verschränkten Armen in seiner besten schwarz-silbernen Jacke dastand.
»Wie heißt du?«, fragte Leif.
Snorri schluckte sein Essen herunter. »Snorri.«
»Welchem Haus gehörst du an?«
»Keinem.«
Leif schürzte verächtlich die Lippen. »Also bist du ein Bettler?«
Snorris Augenbrauen schnellten empört nach oben. »Von wegen! Ich hab meine eigenen Rüben, meine Hütte und mein Fleckchen Land. Ich falle niemandem zur Last und bin niemandem verpflichtet außer mir selber.«
»So, so«, sagte Leif. »Das tut mir leid für dich. Und jetzt...«
»Wieso denn? Ich bin zufrieden. Lieber bin ich ein armer Schlucker als ein hochnäsiger Bursche, der nach Bier stinkt und, falls es stimmt, was man sich von den Svenssons erzählt, jeden Tag mit der eigenen Pisse gur…«
»Genug geplaudert!« Hal kletterte von der Seite auf das Podest. »Kommen wir zu dem, was wirklich wichtig ist! Die Zeit drängt.«
Bei Hals Erscheinen zischte es hier und dort und der eine oder andere schwenkte drohend seine Waffe. Leif hob Ruhe gebietend die Hand und antwortete: » Du misch dich da gefälligst nicht ein, Hal! Und du , Alter, erzählst uns jetzt am besten, was du zu sagen hast. Aber ich warne dich, bei der kleinsten Lüge jage ich dich mit der Pferdepeitsche von hier bis zum Eckzahn. Fang an.«
Snorri schwieg einen Augenblick, aber als er zu sprechen begann, war seine Stimme klar und ruhig. »Das hast du aber nett gesagt, so spricht ein echter Anführer. Ich erwäge ernsthaft, mich gleich wieder zu verabschieden und euch alle eurem Schicksal zu überlassen, damit ihr im Schlaf abgeschlachtet werdet. Aber ich bin Hal Svensson noch
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