Valley - Tal der Wächter
seine Mutter.
»Nein.«
»Ich habe dich gefragt, ob du überhaupt geschlafen hast.«
»Ein bisschen, Mutter. Ein paar Stunden. Die hab ich gebraucht.«
»Gut. Komm her.« Sie saß ruhig und aufrecht da wie sonst auf ihrem Richterstuhl, nicht wie auf einem gewöhnlichen Stuhl an einem Krankenbett. Hal kam zögernd näher und fühlte sich so beklommen, als würde sie gleich ein Urteil über ihn sprechen. Mit gesenktem Blick blieb er vor ihr stehen.
»Mutter...«
»Sieh mich an.« Der Ausdruck ihres blassen, ernsten Gesichts änderte sich nicht, aber sie streckte die Hand nach seiner Wange aus. »Was immer zwischen uns geschehen ist, sei vergeben und vergessen. Du bist mein Sohn, und ich weiß, dass du im Grunde deines Herzens ein guter Kerl bist. Nun ist es an der Zeit, dass du deine guten Eigenschaften nutzt, Hal Svensson. Nutz sie zum Wohle unseres Hauses. Geh rüber in die Halle. Steh Leif nach Kräften zur Seite. Das würde auch dein Vater wollen.«
Sie streichelte ihm flüchtig die Wange. »Bitte komm mit«, erwiderte Hal mit belegter Stimme. »Die anderen warten auf dich und deine Anweisungen.«
Astrid wandte den Kopf ab, das Haar fiel ihr wieder ins Gesicht. »Nein. Ich kann Arnkel jetzt nicht allein lassen. Nicht mehr. Es ist bald so weit. Geh, Hal.«
Draußen vor der Zimmertür blieb Hal einen Augenblick in dem dunklen Flur stehen. Hinter den Vorhängen hörte er die Versammelten aufgeregt reden. Mit einem Mal war er todmüde. Er schloss die brennenden Augen und lehnte sich an die Wand – und sah das Gebirge wieder vor sich, wie er es von dem niedrigen Berg oben im Hochmoor gesehen hatte: scharf umrissen, schreckenerregend, verheißungsvoll... eine Welt, die nur darauf wartete, erforscht zu werden.
Er schlug die Augen energisch wieder auf. Nein. Das war ein Traum und würde immer einer bleiben.
Die Begegnung mit dem Trold hatte Hal zutiefst erschüttert. Nichts war mehr wie vorher.Vor allem hatte der Vorfall die Geschichten um Sven und seine Taten bestätigt. Hal sah den Helden nun wieder im alten Glanz, einem Glanz, der in den letzten Wochen fast völlig verblasst war und jetzt wieder hell leuchtete – zwar nicht mehr ganz so strahlend wie davor, aber immerhin.
Was hatte Sven getan? Er war wie Hal durchs Hochmoor gestreift, auch er hatte es mit den Trolden aufnehmen müssen. Zu guter Letzt hatte er den Ländern jenseits des Gebirges den Rücken gekehrt und war im Kampf um sein Haus und das Tal gestorben. Hal hatte zwar nicht vor, ihm in allen Punkten nachzueifern, aber die Botschaft der alten Geschichten war unmissverständlich. Es ging um sein Haus und um seine Familie. Er wusste, was er zu tun hatte.
Hal schaute zum Vorhang und holte tief Luft.
Dann schlug er den Stoff beiseite und trat in die Halle.
Der noch morgendlich dämmrige Raum war rappelvoll, vom Podest bis zur Eingangstür, von der Feuerstelle bis zur gegenüberliegenden Wand. Fast alle Mitglieder des Hauses waren gekommen, und jeder hatte, ganz instinktiv und ohne sich mit den anderen abzusprechen, irgendeine Art Waffe dabei. Hal sah Männer mit Spaten, Sensen und Dreschflegeln, Frauen mit Hacken, Rechen und scharfen, krummen Sicheln. Die größeren Kinder hatten sich mit Mistgabeln und Schaufeln bewaffnet, die kleineren mit Latten aus den Schreinerwerkstätten. Sturla und Ketil hatten jeder einen langen Eichenknüppel aufgetrieben, der Schweinehirt Kugi hielt eine bedrohlich aussehende Mistgabel in der Hand, und sogar die Ziegenhirtin Gudrun, die sich schüchtern an der Tür herumdrückte, hatte ein rostiges Stück Eisen, das von einem ausgedienten Pflug stammen konnte, in der Hand.
Der Lärm der Menge schwoll an und wieder ab. Alle blickten auf das Podest mit den Richterstühlen und warteten auf das Erscheinen der Familie des Hausherrn.
Neben dem Podest entdeckte Hal Gudny und Snorri. Aud war nicht dabei. Sie ließ sich gerade von Katla Hand und Knöchel neu verbinden.
Snorri, der sich eben einen zweiten Nachschlag geholt hatte und noch an einem Brotkanten mümmelte, nickte Hal zu und vollführte eine ausholende Gebärde. »Da sieht man mal wieder, was ihr Svenssons für eine kriegerische Familie seid! Hier glänzt es ja von Waffen wie auf dem Feld die Nesseln, wenn’s geregnet hat!«
»Die Leute fürchten sich eben!«, erwiderte Gudny ungehalten. »Wir sind eine friedliebende Familie.«
»Das kannst du den Gefallenen in den Gräbern neben meiner Hütte erzählen! Sieh dir doch die Kinder mit ihren Messerchen an! Da
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