Valley - Tal der Wächter
ihres Anführers. Ragnar hielt sein langes Messer ängstlich am ausgestreckten Arm vor sich, die anderen tasteten mit den Schwertern über den Boden. Alle paar Augenblicke blieben sie auf Hords Befehl hin stehen und lauschten. Und jedes Mal hörten sie die Gejagten ein Stück über sich hügelaufwärts stapfen.
Das veranlasste die Männer zu unwilligen Kommentaren. Der eine murrte: »Wo wollen die eigentlich hin? Wenn sie noch höher steigen, kommen sie an die Gräber.«
»Dann haben wir sie, oder?«, erwiderte Ragnar schroff. »Red nicht so viel, geh lieber weiter.«
Kleine Blutstropfen fielen aus seinem Ärmel und hinterließen eine Spur auf der Erde.
Weiter, immer weiter bergauf ging es eine unbestimmte Zeit lang. Hal kam es inzwischen wie eine Ewigkeit vor, fast so als wäre er schon kletternd zur Welt gekommen und müsste bis zu seinem Tod bergauf stapfen. Er fühlte sich dumpf und stumpf, nahm kaum noch etwas wahr: die wogende Dunkelheit, seine eigenen, gleichförmigen Schritte, die Schritte der Verfolger. Dicht neben sich hörte er Aud atmen und in seiner Schulter pochte es. Das Schwert zog seinen gesunden Arm herunter. Ihm wurde vor Anstrengung fast übel.
Außerdem wuchs mit jedem Schritt auch seine Angst. Erst nur unterschwellig, weil die körperlichen Strapazen ihn ablenkten, doch nach und nach erfasste die Angst seine bleiernen Glieder, und ein dicker Kloß in der Kehle drückte ihm die Luft ab. Die Würgemale auf seinem Hals brannten und juckten, seine Augen starrten ins Leere. Bald mussten die Gräber kommen, es konnte nicht mehr weit sein und irgendwo dahinter lauerte Todesgefahr. Hal spitzte die Ohren und lauschte angestrengt in den totenstillen Nebel hinein. Genauso musste es Sven in jener schicksalhaften Nacht auf dem Troldfelsen gegangen sein, als er zwar nichts hörte, aber ahnte, dass die Trolde jeden Augenblick angreifen würden.
Hinter ihm stieß Hord unbeirrt Racheschwüre aus, was aber keinen großen Eindruck auf Hal machte.
Er lauschte auf die Stille vor sich.
Seite an Seite mit Aud kletterte er weiter.
Hord Hakonsson war kaum außer Atem. Der Aufstieg hatte ihn eher verärgert als erschöpft. Nur einer seiner Leute hielt noch mit ihm Schritt, die Übrigen, darunter sein missratener Sohn, schleppten sich in einigem Abstand hinterher. Ihre mangelnde Ausdauer brachte ihn noch mehr auf. Er folgte den Flüchtenden, so rasch er konnte, blieb aber zwischendurch immer wieder lauschend stehen.
Jedes Mal wenn er anhielt und dicht über sich Hals Schritte hörte, rieb er sich den gepanzerten Schwertarm, dort, wo ihn der Hammer des Schmieds getroffen hatte. Die Stelle tat weh, aber die Schramme würde wieder verheilen, ebenso die beiden anderen Hiebe, die er sich beim Kampf in der mit Netzen abgeriegelten Gasse eingefangen hatte.Von so etwas ließ Hord sich nicht aufhalten. Der große Hakon war oft verwundet gewesen und hatte unbeirrt weitergekämpft – ja er hatte seine Feinde noch, mit Wunden übersät, tagelang verfolgt! Wie immer würde sich Hord nach seinem Vorbild richten, allerdings ging er davon aus, dass diese Jagd hier nicht mehr lange dauern konnte.
Hal war müde und verletzt. Weder er noch sein Kumpan konnten ewig durchhalten. Irgendwann mussten sie an die Grenze kommen, dann saßen sie in der Falle. Und dann – Hord schmunzelte unwillkürlich – würde er kurzen Prozess mit dem Bengel machen!
Über ihren Köpfen trat der Mond hinter einer dicken Wolke hervor, strahlte einen Augenblick und verschwand wieder. Grauweißer Nebel wallte auf, verdunkelte sich und wurde wieder pechschwarz.
»Ich glaube, ich habe die Hütte gesehen«, raunte Hal. »Da drüben.«
»Jetzt schon?«
»Spürst du nicht unter den Füßen, dass hier Gras wächst? Wir sind schon auf der Weide.«
»Dann sind die Gräber direkt vor uns.«
Er nahm sie bei der Hand. »So soll’s ja auch sein. Komm.«
Ragnar und seine Gefährten stapften lustlos weiter, bis sie beinahe mit seinem Vater zusammenstießen, der wie angewurzelt dastand und ins Dunkel starrte. »Was treibst du da?«, fragte Ragnar mit aufsässigem Unterton. »Du hast mich erschreckt.«
»Pst! Ich horche.«
»Die beiden laufen jetzt über Gras«, stellte einer der Männer fest.
»Dann kriegen wir sie nie!«, schniefte Ragnar.
»Pssst!«
Ein Windhauch aus dem Hochmoor strich über die sechs Männer, die reglos im dichten Gebirgsnebel standen.
Da ertönte ein jäher, kläglicher Schmerzensschrei.
Sie spitzten die Ohren.
Der Wind trug
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