Valley - Tal der Wächter
Auch sie war in den letzten Tagen ihm gegenüber ein wenig aufmerksamer, als nähme sie ihn zum ersten Mal richtig zur Kenntnis. »Olaf hat es verdient. Darüber sind wir uns alle einig.«
»Wer trauert schon um den?«, brummte Leif. »Ich jedenfalls nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Gudny. »Und unser armer Vater auch nicht.Wir sind froh, dass du ihn umgebracht hast.«
»Aber...«
»Wie hast du es denn angestellt?«, wollte Leif wissen. »Mit Vaters Messer, was?«
»Nein. Ich...«
»Oder hast du ihn vielleicht mit einer Schlinge erwürgt? Wahrscheinlich hast du dich von hinten angeschlichen. Er war ja viel zu stark für dich.«
»Also ich habe ja gehört, er ist verbrannt«, widersprach Gudny. »Ein schauriger Tod, findest du nicht, Leif? Sogar für einen Hakonsson.«
»Tja, was erwartest du denn, wenn zwei Mörder miteinander abrechnen?«
Hal verdrehte die Augen und hob abwehrend die Hände. »Jetzt hört mir doch mal zu! Es ist nicht so, wie ihr...«
Leif unterbrach ihn: »Eigentlich geht es uns ja nichts an, wie du es angestellt hast. Das Ganze ist ziemlich widerwärtig. Sorg einfach dafür, dass du nächste Woche die Verhandlung nicht versaust. Das ist die Hauptsache. Wir brauchen das Land.«
Ein paar Tage später verließ eine Abordnung das Haus und ritt zur Ratsversammlung, auf der Brodirs Mörder verurteilt werden sollten. Die Verhandlung fand an einem neutralen Ort statt, nämlich in Ruriks Haus auf der gegenüberliegenden Talseite. Heilfroh darüber, der bedrückenden häuslichen Stimmung zu entkommen, machte sich Hal mit seiner Mutter, seinem Bruder und fünf weiteren Männern auf den Weg. Sein Vater konnte nicht mitkommen. Arnkels Husten hatte sich verschlimmert und er lag mit Fieber im Bett.
Sie waren etwas über drei Stunden unterwegs. Der Hof der Rurikssons bestand aus einer ansehnlichen mittelgroßen Siedlung inmitten grüner Wiesen, nicht weit vom dahinschießenden Fluss entfernt.Wie bei den Arnessons gab es dort keine Troldmauern mehr, stattdessen waren die Häuser und Höfe von Obstgärten voller kegelförmiger Bienenkörbe umgeben – Ruriks Haus war für seinen köstlichen Honig bekannt. In der Halle, die größer als die meisten anderen im Tal war und von einem fast kegelförmigen Dach gekrönt wurde, herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Durch die Fenster sah man die grün gekleideten Diener der Rurikssons zwischen den Würdenträgern aus dem ganzen Tal in ihren leuchtenden Farben hin- und hereilen.
Die Svenssons saßen im Hof ab und richteten ihre Kleider. Hal stand am Rand der Gruppe und sah den Tauben zu, die von den Dächern aufflogen. Er wunderte sich selbst, dass ihm eigentlich nicht besonders davor graute, die Hakonssons wiederzusehen, sondern dass er fest entschlossen war, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sein Hass auf die Hakonssons war zusammen mit dem brennenden Olaf in Rauch aufgegangen, und da ihn niemand beim Verlassen der in Flammen stehenden Halle gesehen hatte, brauchte er jetzt auch nicht zu befürchten, entlarvt zu werden. Er hatte die Nase voll von diesen Streitigkeiten! Wenn Aud zu Besuch kam, würden sie sich mit Wichtigerem befassen. Er hob den Blick zu der Hügelkette oberhalb des Hauses.
Irgendwo dort oben... Ein Pfad, um allem zu entfliehen...
Vielleicht war Aud heute ja auch dabei. Ihr Vater würde auf jeden Fall in seiner Eigenschaft als Schiedsherr bei der Verhandlung sein. Bei diesem Gedanken schlug Hals Herz ein bisschen schneller. Sein Blick glitt suchend über den Hof und er pfiff vor sich hin.
Jemand trat zu ihm. Seine Mutter packte ihn am Schlafittchen und nahm ihn beiseite.
»Hör mir gut zu, Hal«, sagte Astrid nachdrücklich, »sperr die Ohren weit auf! Wir bringen jetzt unseren Fall vor den Rat. Schiedsherren und -frauen aus dem ganzen Tal sind hier versammelt. Du schilderst, was deinem Onkel geschehen ist, und zwar deutlich, höflich und verständlich, denn davon hängt viel ab. Du antwortest ausschließlich auf die Fragen der Schiedsleute. Lass dich vor allem auf keinen Wortwechsel mit den Hakonssons ein, die auch da sein werden.Auch wenn sie versuchen sollten, dich abzulenken oder als unglaubwürdig hinzustellen – du gehst nicht darauf ein! Keine Widerreden, keinen Streit, nichts! Hast du mich verstanden?«
»Ein unbeteiligter Zuhörer könnte meinen, du traust mir nicht, Mutter«, erwiderte Hal steif.
»Unbeteiligt hin oder her, der Zuhörer hätte durchaus recht, denn ich traue dir tatsächlich nicht weiter
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