Vampir sein ist alles
ohne von seinem Buch aufzusehen.
„Das hast du schon mal gesagt, aber ich glaube es nicht. Immerhin sind mir noch keine Vogelbeine gewachsen.“
Er sah auf. „Aber du könntest unfruchtbar werden.“
„Was? Im Ernst?“
Micah zuckte mit den Schultern und blätterte um. „Oder du wirst immer härter und grausamer, ohne es zu merken. Deine moralischen Grundsätze könnten so langsam schwinden, dass du es erst merkst, wenn es zu spät ist.“
Ich runzelte die Stirn. War ich härter geworden? Das Zusammenleben mit einem Vampir hatte mich ein wenig abgestumpft, das stimmte - ich meine, ich ekelte mich inzwischen nicht mehr vor Blut. Doch war das vielleicht auch Liliths Einfluss zuzuschreiben?
„Denk darüber nach“, sagte Micah und sah mich kurz an. „Wie oft zapfst du IHRE Energie mittlerweile an? Öfter als früher? Greifst du bei immer einfacheren Zaubereien auf sie zurück? Bei Sachen, die du früher allein gemacht hast?“
Ich legte empört mein Sandwich ab. „Ich bin auch ohne Hilfe eine fähige Hexe!“
„Davon bin ich überzeugt“, entgegnete er ruhig. Dann schaute er wieder in sein Buch und aß sein Sandwich auf, und es schien ihn nicht zu stören, dass ich ihn dabei die ganze Zeit anstarrte.
„Warum liest du eigentlich ein Hexen-Anfängerbuch?“, fragte ich schließlich.
Er sah mich spöttisch an. „Kannst du dir das nicht denken?“
„Du warst noch nie in einem Zirkel?“
„Du hast es erfasst.“
Ich konnte es kaum glauben. Angesichts der Energie, die ich in ihm spürte, konnte Micah unmöglich ein Anfänger in Sachen Magie sein. Ich hätte gern noch einmal seine Aura überprüft, aber nach dem, was ich beim letzten Mal gesehen hatte, wagte ich es nicht. Vielleicht war er bisher ein Einzelgänger gewesen; es wäre zumindest eine einleuchtende Erklärung.
„Du hast gesagt, die 'höhere Macht' will möglicherweise, dass wir zusammen nach Sebastian suchen“, sagte ich, rollte meine Sandwichreste in das Papier ein, das auf dem Tablett lag, und steckte das Päckchen in die kleine Plastiktüte. „Also, ich wäre dazu bereit.“
Micah nickte. Dann legte er sein Buch zur Seite und sah mich abwartend an.
„Hast du denn Zeit?“
Er lachte. „Du meinst, jetzt gleich? Du fackelst wirklich nicht lange, was?“
„Nein, ist nicht meine Art“, antwortete ich. „Also, wenn du Zeit hättest, könnten wir zu mir fahren ..."
„Ich dachte schon, das sagst du nie.“
„Du fährst einen Jeep Cherokee?“, fragte ich, als er mich zu seinem Parkplatz führte. „Unglaublich! Empfindest du das nicht als Beleidigung oder so?“
Er zuckte mit den Schultern. „Glaubst du, irgendwelche Marineoffiziere sind sauer, weil es einen Jeep gibt, der Commander heißt?“
„Haha, aber die sind eben keine ..."
„Und ich bin kein Cherokee“, fiel er mir ins Wort. Es klang zwar wie eine seiner typischen schlagfertigen Erwiderungen, doch ich glaubte, einen Hauch von Schärfe aus seinen Worten
herauszuhören. Sein Gesichtsausdruck war jedoch im trüben Neonlicht der Tiefgarage nicht so recht zu deuten. „Steig ein!“
Ich setzte mich also zum zweiten Mal an diesem Tag in das Auto eines Fremden. Es war nicht mehr das neueste, aber sehr gepflegt, und Sitze und Boden waren nicht zugemüllt. Auf der Rückbank lagen ein paar Leihbücher - nach dem Cover zu urteilen, Krimis oder Thriller - und eine Papiertüte mit Colaflaschen und anderem Abfall.
Das Radio ging an, als Micah den Motor anließ, und er sah mich fast entschuldigend an und schaltete es rasch aus. Vermutlich befürchtete er, ich würde mich abfällig darüber äußern, dass er Wisconsin Public Radio hörte, aber seit ich mit einem Vampir zusammen war, der auf Countrymusik stand, hatte sich mein Horizont gehörig erweitert. Da konnte ich ja wohl kaum etwas sagen. Abgesehen davon war ich selbst mit NPR aufgewachsen. Solange ich zurückdenken konnte, hatten meine Hippieeltern samstags immer die beliebte Sendung A Prairie Home Companion gehört.
Micah öffnete das Fenster auf meiner Seite einen Spalt; er gehörte also auch zu denen, die eine natürliche Frischluftzufuhr bevorzugten. Es war und blieb das Vorrecht des Fahrzeugbesitzers, über die Benutzung der Klimaanlage zu entscheiden. Und als Beifahrerin stellte man seine Entscheidung nicht infrage; zumindest nicht, wenn man das erste Mal mitfuhr - höchstens wenn man sich schon ein paar Monate kannte. Sebastian und ich beispielsweise konnten uns darüber
streiten - also wir hätten es jedenfalls
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