Vampire bevorzugt
Und da begriff ich, dass die Person, die auf mich geschossen hatte, kein Vampir war, auch wenn alle Schüsse in der Dämmerung oder bei Dunkelheit abgegeben worden waren. Ich hatte das Gehirn des Schützen wahrgenommen, eine Sekunde bevor er schoss, und das hatte mir das Leben gerettet.
Bill sah sofort auf, als ich mich bewegte. »Wie fühlst du dich?«
Ich drückte den Knopf, mit dem ich das Kopfteil des Bettes hochstellen konnte. »Höllisch miserabel«, sagte ich freiheraus nach einer ersten Einschätzung meiner Schulter. »Die Wirkung des Schmerzmittels hat nachgelassen, und meine Schulter tut weh, als würde sie gleich abfallen. Mein Mund fühlt sich an, als wäre eine ganze Armee durchmarschiert, und ich muss dringend zur Toilette.«
»Dabei kann ich dir helfen«, sagte Bill, und noch ehe es mir unangenehm wurde, hatte er schon den Tropf ums Bett herumgeschoben und mir herausgeholfen. Vorsichtig stellte ich mich auf die Füße, um zu testen, wie stabil meine Beine waren. »Ich lass dich nicht fallen«, sagte Bill.
»Ich weiß«, erwiderte ich, und wir gingen über den Flur zu den Toiletten. Als er mich auf einem der Klos abgesetzt hatte, ging er taktvoll wieder hinaus, ließ die Tür aber einen Spalt weit offen und wartete draußen. Ich kam klar, auch wenn ich mich ziemlich ungeschickt anstellte. Jetzt erst begriff ich, was für ein Glück ich hatte, dass meine linke Schulter und nicht die rechte getroffen worden war. Der Schütze hatte es natürlich auf mein Herz abgesehen gehabt.
Bill bugsierte mich so sicher und geschickt wieder ins Bett, als hätte er sein Leben lang Kranke versorgt. Er hatte bereits die Laken glatt gezogen und die Kissen aufgeschüttelt, und ich fühlte mich gleich viel wohler. Weil die Schmerzen in meiner Schulter mich weiterhin plagten, drückte ich den Knopf für das Schmerzmittel. Mein Mund war trocken, und ich fragte Bill, ob Wasser in dem Plastikbecher war. Bill drückte den Schwesternknopf. Als eine blecherne Stimme über die Gegensprechanlage ertönte, sagte er: »Bitte Wasser für Miss Stackhouse«, und die quäkende Stimme versprach, gleich da zu sein. Und das war sie tatsächlich auch. Bills Anwesenheit mag etwas mit ihrer Eilfertigkeit zu tun gehabt haben. Die Leute hatten die Existenz von Vampiren vielleicht akzeptiert, aber das hieß nicht, dass sie untote Amerikaner wirklich mochten. Viele Amerikaner der Mittelklasse konnten sich in Gegenwart von Vampiren einfach nicht entspannen. Eigentlich ziemlich klug von ihnen, wie ich fand.
»Wo bin ich überhaupt?«, fragte ich schließlich.
»In Grainger«, sagte Bill. »Sieht so aus, als sitze ich jedes Mal in einem anderen Krankenhaus an deinem Bett.« Das letzte Mal war ich im Krankenhaus in Clarice gewesen.
»Dann kannst du ja auch gleich Calvin besuchen.«
»Wenn ich das denn tun wollte.«
Er saß auf dem Bettrand. Irgendetwas an der Leblosigkeit der Stunde und an der Fremdartigkeit der Nacht ließ mich offen und ehrlich sprechen. Vielleicht lag es aber auch nur an den Medikamenten.
»Bevor ich dich kennen gelernt habe, war ich nie im Krankenhaus.«
»Gibst du mir die Schuld daran?«
»Manchmal.« Ich betrachtete sein weiß schimmerndes Gesicht. Andere Leute erkannten es meist gar nicht, wenn sie einen Vampir vor sich hatten. Rätselhaft.
»Als ich an jenem Abend ins Merlotte's kam und dich das erste Mal sah, wusste ich nicht, was ich von dir halten sollte«, sagte Bill. »Du warst so schön und so voller Lebenskraft. Und mir war klar, dass du irgendwie anders warst. Du warst interessant.«
»Mein Fluch.«
»Oder deine Gabe.« Er legte eine seiner kühlen Hände auf meine Wange. »Kein Fieber«, sagte er wie zu sich selbst. »Du wirst wieder gesund.« Dann setzte er sich aufrechter hin. »Du hast mit Eric geschlafen, als er bei dir gewohnt hat.«
»Warum fragst du, wenn du es schon weißt?« Es gab auch so etwas wie zu große Aufrichtigkeit.
»Ich frage gar nicht. Ich wusste es gleich, als ich euch zusammen sah. Ich habe ihn überall an dir gerochen und spürte, was du für ihn empfunden hast. Wir haben das Blut des jeweils anderen gehabt. Es ist schwer, Eric zu widerstehen«, fuhr Bill in eher neutralem Ton fort. »Er ist genauso voller Lebenskraft wie du, und ihr habt beide diesen Lebenshunger. Aber du weißt sicher, dass ...« Er hielt inne und schien darüber nachzudenken, wie er formulieren sollte, was er zu sagen hatte.
»Du wärst doch nur glücklich, wenn ich nie wieder im Leben mit irgendeinem anderen
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