Vampire's Kiss
Felseneiland konnte man so ein Ding wohl eher aus Granit meißeln als aus Holz schnitzen.
»Wenn du dich aufmerksam umsiehst, findest du genug Material«, meinte er.
Immer neue Fragen kamen mir in den Sinn, und ich wusste, dass meine Augen zu glänzen begannen. »Muss es unbedingt Holz sein?« Ich dachte an all die alten Mythen. »Wie bei Dracula – ein Holzpflock mitten ins Herz?«
Widerstrebend schüttelte er den Kopf. »Es stimmt zwar, dass man sie nur durch Pfählen und Enthaupten für immer loswird. Aber du kannst jedes Material verwenden, wenn die Kraft, die dahintersteckt, groß genug ist. Holz, Stahl, Eisen – was immer du gerade zur Verfügung hast.«
Ich wog den Stab in der Hand. Besonders wuchtig wirkte er nicht – am ehesten erinnerte er an einen überdimensionalen Bleistift. »Dann hätte ich an deiner Stelle Stahl gewählt.«
»Und woher nehmen, Annelise? Glaubst du, dass die Vampire solche Sachen an uns verteilen?« Er nahm den Stab wieder an sich und schob ihn in seinen Pulloverärmel. »Außerdem wird Holz nicht von Metalldetektoren aufgespürt.«
Das brachte mich erst mal zum Schweigen und erneuten Nachdenken. Wozu musste er solche Stäbe auf Reisen mitführen, wenn die Monster hier waren? Was würde geschehen, wenn ein Vampir sie entdeckte? Und, mal im Ernst, weshalb brauchte er sie eigentlich? Hatte er je in Erwägung gezogen, von dieser Insel zu fliehen?
Aber diese Frage konnte ich ihm niemals stellen. Wie ich Ronan kannte, würde er mich und meine Pläne sofort durchschauen. Stattdessen wählte ich ein eher banales Thema. »Warum musst du die Stäbe vor den Vampiren verstecken? Könntest du nicht einfach sagen, dass sie dir zum Schutz gegen die Draug dienen?«
»Sie glauben, dass der sicherste Schutz für Menschen darin besteht, die ihnen vorgegebenen Grenzen nicht zu überschreiten.«
Ich beobachtete sehr genau, wie er die Stäbe wieder an seinen Unterarmen befestigte, und dachte an die Waffen, die ich selbst anfertigen konnte. Wenn ich wirklich von der Insel fliehen wollte, brauchte ich zum Überleben vermutlich mehr als ein paar Wurfsterne und meinen gesunden Menschenverstand.
Ich würde von jetzt an nach dem geeigneten Holz Ausschau halten. Später konnte ich mir dann Emmas Jagdmesser ausleihen, um die Pflöcke zu glätten und anzuspitzen. »Ich fände es total cool, mir auch so ein Ding zu schnitzen.«
»Das wirst du total bleiben lassen. Und du wirst auch mit niemandem darüber sprechen. Sollten die Vampire nämlich entdecken, dass du eine Waffe trägst, die nicht von ihnen stammt, würden sie kurzen Prozess machen und sie gegen dich verwenden. Du musst mir versprechen, dass du diese Unterredung so schnell wie möglich wieder vergisst.«
Ich nickte nach einem kurzen Zögern, aber der Keim war gelegt.
Sein Tonfall hatte mir verraten, dass er von dieser Sache nichts mehr hören wollte, aber seine Stirnfalten warnten mich vor dem nächsten Thema. Da ich keine Lust auf die drohende Strafpredigt hatte, wechselte ich im Eiltempo den Gang.
»Woher kennst du dich eigentlich so gut mit all dem medizinischen Zeug aus?«, fragte ich. »Das Abbinden von Wunden. Atemkontrolle. Gebrochene Rippen ertasten.« Hier geriet ich ins Stammeln, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Das bekommst du nächstes Semester«, erklärte er trocken. »Erste Hilfe im Zusammenhang mit Kampfsportarten.«
Ronan wirkte immer fahriger und einsilbiger, je näher wir dem Campus kamen, und als wir den Innenhof erreichten, schienen seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Meine Strafpredigt stand immer noch aus, was ich mehr als seltsam fand.
Ich hatte ein ungutes Gefühl, das ich nicht näher benennen konnte – bis mir plötzlich ein Licht aufging. Im Hof wimmelte es von Vampiren. Sie strömten aus den Gebäuden, kamen die Treppen herunter, lösten sich aus den Schatten der Bäume und bewegten sich dabei so elegant, dass sie eher zu schweben als zu gehen schienen.
»Das Blut«, flüsterte Ronan mir zu. »Sie riechen deine Wunde.«
Master Dagursson tauchte aus dem Pavillon der Schönen Künste auf. »Acari Drew! Was ist geschehen?« Mich konnte er mit seiner gespielten Besorgnis nicht täuschen. Ich wusste, dass er mich in Häppchen zerlegen und als Mitternachtsimbiss verzehren würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme.
Erst in diesem Moment kam mir voll zu Bewusstsein, was ich angerichtet hatte. Ich war vom Weg abgewichen – und zwar gewaltig. Ich hatte heimlich einen Lehrer verfolgt und mich auf
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