Vampirgeflüster
Seit dem letzten Dopingskandal hatte die Welt des Sports keinen solchen Aufruhr mehr erlebt. Waren diese Sportler aufgrund ihrer Herkunft den Konkurrenten gegenüber auf unfaire Weise im Vorteil? Sollten ihnen ihre Siegestrophäen aberkannt werden? Sollten ihre Rekorde weiterhin Gültigkeit haben? Irgendwann hätte ich bestimmt Spaß daran, mich mit jemandem darüber zu unterhalten, doch im Augenblick war es mir einfach egal.
So langsam bekam ich einen Überblick. Die Existenz der zweigestaltigen Geschöpfe wurde ganz anders beurteilt als die der Vampire nach der Großen Enthüllung. Die Vampire hatten im Leben der Menschen vorher, außer in Sagen und Legenden, keine Rolle gespielt. Sie hatten abseits gelebt und sich erst, als das synthetische Blut aus Japan ihre Ernährung sicherte, als völlig harmlose Wesen präsentiert. Aber die Wergeschöpfe lebten schon die ganze Zeit unter uns und waren in die Gesellschaft integriert, auch wenn sie nebenher noch ein geheimes Leben führten. Manchmal wussten nicht einmal die Kinder (wenn sie nicht Erstgeborene und damit selbst Wergeschöpfe waren) über ihre Eltern Bescheid, vor allem wenn diese keine Werwölfe waren.
»Ich fühle mich hintergangen«, wurde eine Frau zitiert. »Mein Großvater verwandelt sich jeden Monat in einen Luchs, rennt im Wald herum und geht auf die Jagd. Die Kosmetikerin, zu der ich schon seit fünfzehn Jahren gehe, ist eine Kojotin. Und all das habe ich nicht gewusst! Ich fühle mich wirklich auf schändliche Weise hintergangen.«
Manche Leute waren fasziniert. »Unser Direktor ist ein Werwolf«, sagte ein Schüler in Springfield, Missouri. »Wie cool ist das denn?«
Andere wiederum machten sich Sorgen wegen der Existenz von Wergeschöpfen. »Ich habe Angst, aus Versehen meinen Nachbarn zu erschießen, wenn er die Straße entlangläuft«, sagte ein Farmer aus Kansas. »Und was, wenn er sich über meine Hühner hermacht?«
Und die Kirchen diskutierten ihre Leitlinien im Umgang mit Wergeschöpfen. »Wir wissen nicht, was wir davon halten sollen«, gab der offizielle Sprecher des Vatikans zu. »Sie leben, sie sind unter uns, sie müssen eine Seele haben. Sogar einige unserer Priester sind Wergeschöpfe.« Und die Evangelikalen waren genauso ratlos. »Wir haben mit Sorge verfolgt, dass Adam nicht nur Eva, sondern auch Ewald liebt«, sagte ein Baptistenprediger. »Müssen wir uns jetzt Sorgen über Bello und Fifi machen?«
Herrje, während ich den Kopf voll gehabt hatte, war auf der Welt die Hölle losgebrochen.
Und plötzlich verstand ich besser, wie meine Werpanther-Schwägerin an einem Kreuz hinter einer Bar enden konnte, die einem Gestaltwandler gehörte.
Kapitel 6
In dem Moment, als ihr die Nägel aus Händen und Füßen gezogen wurden, nahm Crystals Körper wieder vollständig Menschengestalt an. Wie alle vor Ort sah auch ich gebannt vor Entsetzen vom Absperrband aus zu, als die Leiche vom Kreuz genommen wurde. Selbst Alcee Beck zuckte zusammen. Ich wartete schon seit Stunden. Inzwischen hatte ich alle Zeitungen zweimal und ein Taschenbuch aus dem Handschuhfach meines Autos zu einem Drittel gelesen und mich auch noch höflich mit Tanya über Sams Mutter unterhalten. Nachdem wir diese Neuigkeiten ausgetauscht hatten, sprach sie hauptsächlich über Calvin. Ich glaube, sie war bei ihm eingezogen. Tanya hatte eine Teilzeitstelle in der Verwaltung von Norcross bekommen, irgendeinen Bürojob. Die geregelten Arbeitszeiten gefielen ihr. »Und ich muss nicht den ganzen Tag auf den Beinen sein«, fügte sie hinzu.
»Klingt gut«, sagte ich höflich, obwohl ich die Art von Job hassen würde. Jeden Tag mit denselben Leuten arbeiten? Ich würde sie alle viel zu gut kennenlernen, weil ich mich nicht aus ihren Gedanken raushalten könnte, und würde sehr schnell nur noch weg wollen von ihnen, eben weil ich sie viel zu gut kannte. Ins Merlotte's kamen immer wieder andere Gäste, so dass ich genug Ablenkung hatte.
»Wie ist die Große Offenbarung für dich gelaufen?«, fragte ich.
»Ich habe es meinen Kollegen bei Norcross am nächsten Tag gesagt«, erzählte Tanya. »Sie fanden es vor allem lustig, als sie hörten, dass ich eine Werfüchsin bin.« Tanya wirkte empört. »Wieso stehen nur die großen Tiere so gut da? Calvins Arbeitsteam in der Fabrik hat ihm große Achtung entgegengebracht. Und bei mir machen sie Witze über buschige Schweife.«
»Nicht gerade fair«, entgegnete ich und versuchte, mir mein Lächeln zu verkneifen.
»Calvin
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