Vampirmelodie
Richtung, ohne dass Sam es sah. Sie dachte, es reiche jetzt für Sam, und sie wollte, dass ich gehe; das war leicht zu verstehen, auch wenn man kein Telepath war. Ich bin nicht so sicher, dass ich sonst schon gegangen wäre – ich fand, dass ich noch ein paar Abschlusserklärungen schuldig war –, aber sie war Sams Mutter. Ich hievte mich auf die Beine und fühlte mich etwa zehn Jahre älter als zu dem Zeitpunkt, als ich an die Tür des Wohnwagens geklopft hatte.
»Wir sehen uns, Sam«, sagte ich. »Komm bitte bald wieder zur Arbeit.« Er antwortete nicht und starrte immer noch den Platz an, auf dem ich gesessen hatte.
»Tschüss, Sookie«, sagte Bernie. »Wir beide müssen später noch mal miteinander reden.«
Lieber wäre ich über heiße Kohlen gegangen, aber ich sagte: »Klar doch.«
Im Merlotte’s verging der Arbeitstag in einem seltsam normalen Rhythmus. Es kann schwierig sein, sich daran zu erinnern, dass nicht alle von den großen Ereignissen wissen, die in der Welt der Supras vor sich gehen, selbst wenn diese Ereignisse direkt unter der Nase der allgemeinen Öffentlichkeit stattfinden. Und selbst wenn alle Menschenin der Bar davon gewusst hätten, wäre es ihnen womöglich herzlich egal gewesen.
Das große Klatschthema im Merlotte’s war, dass Halleigh Bellefleur im Rotary Club ohnmächtig geworden war, als sie aufstand, um zur Toilette zu gehen. Und weil sie im siebten Monat schwanger war, machten sich alle große Sorgen. Terry, der Cousin ihres Ehemanns, kam, aß eine Portion frittierte Pickles und konnte uns allen versichern, dass Andy Halleigh direkt zu ihrem Arzt gefahren hatte und es ihr prima ging. Laut Terry hatte der Arzt Andy und Halleigh gesagt, dass das Baby gegen irgendetwas drückte, und als das Baby sich bewegte, war Halleighs Blutdruck heruntergegangen. Oder irgend so etwas.
Der Andrang zur Mittagszeit war moderat, was einleuchtend war, da sich im Sizzler Steak House der Rotary Club traf. Als nur noch einige versprengte Gäste übrig waren, übergab ich An meine Tische und ging zum Postamt, um die Post fürs Merlotte’s abzuholen. Ich erschrak, als ich sah, wie viel sich im Postfach der Bar angesammelt hatte. Sams Rückkehr wurde immer dringlicher.
Zurück im Merlotte’s setzte ich mich in Sams Büro und ging die Briefe durch. Sicher, ich arbeitete seit fünf Jahren hier, hatte vieles aufgeschnappt, wusste, wie das Geschäft lief, und durfte inzwischen Schecks ausstellen und auch unterschreiben. Doch es mussten dringende Entscheidungen getroffen werden. Der Kabelfernsehvertrag für die Bar stand zur Verlängerung an, und Sam hatte davon geredet, den Anbieter wechseln zu wollen. Zwei Benefiz-Veranstalter fragten nach Spenden in Form teurer Spirituosen, die versteigert werden sollten. Und fünf Wohltätigkeitsgruppen aus der Umgebung baten ganz einfach um Geld.
Am seltsamsten aber war ein Brief, den wir von einem Rechtsanwalt aus Clarice bekommen hatten, der neu inder Gegend war. Er wollte wissen, ob wir für Jane Clementine Bodehouses Notaufnahme ins Krankenhaus zahlen würden. Der Anwalt drohte uns freundlich, das Merlotte’s wegen Janes geistiger und körperlicher Schäden zu verklagen, wenn wir dem nicht nachkämen. Ich sah auf den Betrag auf der Kopie von Janes Rechnung. Verdammt. Jane war mit einem Krankenwagen transportiert und danach geröntgt worden. Und zudem waren ihre Wunden mit einigen Stichen genäht worden, anscheinend mit einem Goldfaden.
»Heiliger Hirte von Judäa«, murmelte ich und las den Brief noch einmal.
Im vergangenen Mai war ein Brandbombenanschlag auf das Merlotte’s verübt worden, bei dem Jane Bodehouse, eine unserer Alkoholikerinnen, von herumfliegenden Glasscherben verletzt worden war. Der Fahrer des Krankenwagens hatte sie erstversorgt und dann in die Notaufnahme gebracht, wo sie durchgecheckt wurde. Sie hatte mit ein paar Stichen genäht werden müssen und war ansonsten guter Dinge gewesen … betrunken, aber guter Dinge. Alle ihre Verletzungen waren leicht gewesen. Und in den letzten ein, zwei Wochen hatte Jane in Erinnerungen an diesen Abend geschwelgt, sich ihrer eigenen Tapferkeit gerühmt und allen erzählt, wie gut sie sich deswegen fühlte. Und jetzt schickte sie uns eine so hohe Rechnung und drohte mit einer Klage?
Ich runzelte die Stirn. Das ging doch weit über Janes geistigen Horizont hinaus. Ich hätte schwören können, dass dieser neue Rechtsanwalt es darauf angelegt hatte, ein Geschäft zu machen. Er hatte vermutlich Marvin
Weitere Kostenlose Bücher