Vampirnacht
irgendwem oder irgendwas zu unterwerfen. Aber manchmal musste man eben alle Kontrolle an eine höhere Macht abgeben, um des großen Ganzen willen. Und tief im Herzen wusste ich, dass ich das Richtige tat, obwohl ich gegen die Demut rebellierte, die von mir erwartet wurde.
Ohne ein weiteres Wort führte Roman mich zu der Flügeltür, und zwei Wachen verneigten sich tief, als sie ihn erkannten. Wir traten durch die Tür in den Thronsaal.
Er war gewaltig, so groß wie unser ganzes Haus, und mehrere Reihen von Sitzen entlang der Wände erinnerten mich an einen Hörsaal. Ganz hinten in der Mitte auf einem erhöhten Podium stand ein Thron aus schwarzem Marmor. Darauf saß eine Frau in goldenen Gewändern, mit Purpur abgesetzt. Sie wirkte imposant, hatte graumeliertes Haar und ein Gesicht, das nur leicht vom Alter gezeichnet war. Bei ihrer Verwandlung musste sie etwa fünfzig gewesen sein und in bester Verfassung. Ihre Augen waren ebenso silbrig kühl wie Romans, und auch ansonsten war er ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Blodweyn erhob sich. Ihr bauschiges Kleid, oben eng wie ein Mieder und von den Hüften abwärts weit fließend, glitzerte bei jeder Bewegung. Glänzende Goldfäden und funkelnde Rubine waren in Rankenmustern aufgestickt. Das Kleid hatte etwas beinahe Elisabethanisches, trotz des tiefen Ausschnitts. Ein hoher Stehkragen im Nacken betonte ihren Hals. Blodweyns Haar war kunstvoll hochgesteckt und mit einem Diadem geschmückt, Rubine und Diamanten in einem goldenen Reif.
Sie war bleich wie Nebel. Bleich wie Sahne. Kein Hauch von Farbe auf ihren Lippen oder Wangen. Blodweyn, die Königin des Purpurnen Schleiers, war so kalt und weiß wie eine Eisskulptur.
Sie wartete, während Roman mich zu den Stufen vor ihrem Thron führte. Er kniete nieder, und ich gab mir alle Mühe, tief zu knicksen, ohne mich bis auf die Knochen zu blamieren.
Blodweyn gestattete uns mit einem Wink, uns zu erheben. Roman ließ meine Hand los, bedeutete mir zu bleiben, wo ich war, und rannte leichtfüßig die Stufen hinauf. Er küsste die Hand, die seine Mutter ihm hinstreckte.
»Euer Hoheit … Danke, dass Ihr mich empfangt.«
Und dann bekam ihr marmornes Gesicht Risse – nur ganz kleine –, und sie lächelte ihren Sohn an. »Roman, wir sind mit dem Mädchen allein. Also nicht so förmlich.«
Verblüfft über diese Offenheit, riss ich den Kopf hoch und starrte sie an. Sie grinste wölfisch auf mich herab. »Was denn? Rechnest du etwa nicht damit, dass uralte Königinnen die moderne Welt verstehen? Deine Feenköniginnen können es doch auch. Unterschätze mich nicht, Mädchen.«
»Niemals«, antwortete ich automatisch, ehe mir einfiel, dass ich vermutlich hätte schweigen sollen, bis sie mich zum Sprechen aufforderte.
Doch Blodweyn kicherte nur und lehnte sich auf ihrem Thron zurück. »Erhebe dich, Menolly. So … du bist also die Gefährtin meines Sohnes. Dreh dich um, lass dich ansehen.«
Ich kam mir vor wie eine Zuchtstute, während ich mich in meinem schlichten weißen Kleid vor ihr im Kreis drehte und mich fragte, was sie von mir halten mochte. Die höfische Welt war so gar nicht meine, und ich hatte nicht die Absicht, bauschige Ballkleider oder juwelenbesetzte Diademe zu tragen, außer vielleicht, wenn ich Roman zu einem hochoffiziellen Empfang begleitete.
»Interessant. Mir gefällt das Feuer in ihren Augen, mein Sohn.« Sie sprach mit Roman, als sei ich gar nicht anwesend, doch es erschien mir nicht klug, sie darauf hinzuweisen. Sie wandte sich mir wieder zu und sah mich unverwandt an. Auf einmal fühlte sich dieser Blick an wie ein Pflock durchs Herz, und ich konnte mich nicht mehr rühren. Ich war überzeugt davon, dass sie jeden Vampir mit diesem Blick erstarren lassen konnte. Ihre Macht war sehr real und sehr gewaltig.
Nach ein paar Augenblicken ließ sie mich los. »Die Augen sprechen Bände, das muss man abgedroschenerweise sagen. Aber Klischee hin oder her, es ist eine schlichte Tatsache, dass wir aus dem Blick eines anderen viel herauslesen können. Und ich kann die Wahrheit in deiner Seele lesen, Menolly. Du liebst meinen Sohn nicht, aber du hast ihn gern.«
Ich stammelte: »Ich … ich liebe ihn so, wie ich ihn lieben kann, Euer Hoheit.«
Blodweyn zuckte mit den Schultern. »Liebe wird überbewertet. Mein Sohn ersehnt sie sich, aber die Liebe führt nur zu Tragödien und Verlusten. Zuneigung und Loyalität sind die Emotionen, die man erstreben und pflegen sollte. Und ich sehe, dass du äußerst
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