Vampirzorn
einem grausen Labyrinth
voll goldnem Glockenklang.
Ein Gesicht über einem grausigen, labyrinthartigen Ort, auf eine Eiswüste hinausblickend. Das Kloster? Etwas anderes kam kaum infrage. »Rot das Gewand, nur Blut im Sinn, wohnt er ...«
Er, nicht sie? Der Gebieter des Klosters demnach. Wer auch immer es sein mochte, er war also derjenige, vor dem Harry sich in Acht nehmen musste. Und stand nicht eine Zeile in seinem Notizbuch, die das Wort »Gebieter« enthielt? Harry blätterte um und fand sie:
»Sie ist die Zofe, die über den Zwinger ihres Gebieters wacht.« (Erneut hatte Harry das Gefühl, sich auf ganz dünnem Eis zu bewegen. Doch er las weiter.) »Sein Schloss, eine Höhle, hoch oben in den Bergen. Gelb glühendes Bett. ... er schläft ...«
Ergab das einen Sinn? Wusste er irgendetwas darüber? Mist! Weshalb brach ihm allein, wenn er darüber nachdachte, schon der Schweiß aus? (Vielleicht sollte er ja nicht darüber nachdenken – noch nicht.)
Also weiter, zum nächsten Eintrag:
»Von einem Blut, leben davon. Nehmen Leben. Feuer, Pfahl, Schwert!« Der Vers lautete:
Sie sind von einem Blut, sie alle
leben von Blut und von den Leben,
die sie nehmen. Ihr Sturz ist möglich
durch Feuer, Pfahl und Schwert!
Abermals musste er aufhören, denn lange würde das Eis ihn nicht mehr tragen. Jenes unheilvolle Wort – Wamphyri – schoss ihm durch den Sinn, und rasch las er weiter.
Nostradamus hatte ihm gesagt, dass eines seiner veröffentlichten Quatrains sich direkt auf ihn, den Necroscope, beziehe. Und tatsächlich, in seinem Notizbuch stand: »Zweites ›C‹, unter Nostras Namen. Ba(ä)um(e). Stolz = Schmach.«
Was immer das heißen sollte, es ergab folgenden Vers:
Im Zweiten »C« unter Nostras Namen,
Baum ist Bäume und ersetze Stolz durch Schmach.
Draußen war es bereits dunkel. Der Mond stand tief. Er war beinahe voll und tauchte den Rand der rasch dahinziehenden Wolken in flüssiges Silber. Harry überlief ein Schauder. Er schloss die Vorhänge und unternahm einen Möbiussprung in eine kleine Seitenstraße unweit der Bücherei von Bonnyrigg. Die Bücherei war geschlossen – gut! Ein weiterer Sprung brachte ihn hinein ins Innere, an das Regal mit der Literatur über Nostradamus. Wahllos griff er sich einen Arm voll Bücher und nahm sie mit nach Hause.
Er begann mit einem Band, der die kompletten Quatrains enthielt, und durchblätterte die Seiten bis zur zweiten »Centurie«, dem zweiten Satz von einhundert Vierzeilern, noch immer, ohne zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Ihm war lediglich klar, dass es etwas mit Nostradamus’ Namen zu tun haben musste. Was steckt hinter einem Namen? Namen und Zahlen ...
»Du findest ihn unter meinem Namen«, hatte Nostradamus zu ihm gesagt. »Gebrauche deine Zahlen – und die meinen ebenfalls!« Aber das war keineswegs eine Anspielung auf die intuitiven mathematischen Fähigkeiten des Necroscopen. Nein, er hatte es weit esoterischer gemeint und sich auf die Numerologie bezogen!
Also gebrauchte Harry auch Zahlen, und zwar das hebräische System:
Die Summe von Nostradamus’ Namen ergab insgesamt siebzig. Daran erinnerte Harry sich noch aus seiner Unterhaltung mit dem toten Seher. Und nannte man ihn Michel de Nostradamus, die moderne Version seines Namens, kam man ebenfalls auf diese Summe. In beiden Fällen zählte der Necroscope die Sieben und die Null zusammen, und das ergab die Sieben: die Zahl des Bücherwurmes, des Mystikers, Okkultisten und Magiers.
Doch die eigentliche Zahl seines Namens lautete in beiden Fällen Siebzig. Also schlug Harry die Seite mit Quatrain Nummer 70 in der zweiten Centurie auf:
Le dard du ciel fera son estendu,
Mors en parlant: grand execution:
La pierre en l’arbre la fiere gent rendue,
Bruit humain monstre purge expiation.
Verdammt! Es war im französischen Original. Sie waren allesamt auf Französisch, mit Übertragungen »gemäß dem Autor«, zweifellos um die Meinung des Autors zu stützen. Allmählich kam der Necroscope sich wie ein Idiot vor. Er war für nichts und wieder nichts losgezogen. Doch dann suchte er in seinem Stapel nach einem Buch mit direkten Übersetzungen. Aber in dem einzigen, das er hatte, war ausgerechnet dieses Quatrain nicht aufgeführt.
Er öffnete seine metaphysischen Kanäle und wandte sich an »Freunde« auf dem örtlichen Friedhof. »Ich brauche jemanden, der Französisch spricht – äh, sprach.« Die zahllosen Toten hatten ihn noch nie so unhöflich und unverblümt erlebt. Ihnen
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