Variationen zu Emily
Einsatz das Ersaufen im Müll erspart.
Er nahm den Bus in die City, offenbar ein neues Modell mit behindertengerechter Eintrittsvorrichtung, das bereits durch die infantilen Hinterlassenschaften der Spraydosen-Vandalen und Pfadfindermesserdesperados gezeichnet war. Den vielen sorgengefurchten Gesichtern nach zu urteilen, die ihm in dem Vehikel begegneten, drohte der deutschen Wirtschaft auch ohne sein Zutun eine Rezession. Frustration, Langeweile, Konsumverzicht, Verzweiflung und Arbeitsverweigerung. Dazu noch eine gehörige Portion debiler Destruktivität, dachte er und fühlte sich auf einmal sehr konservativ. Er stieg am Platz der Republik aus und schlenderte die Fußgängerzone entlang. Der zerzauste Beatnik am Eingang zum örtlichen Kaufhaus quälte wie immer seine Gitarre in dem vergeblichen Versuch, einen Stones-Titel erkennbar wiederzugeben. Tom warf ihm wie gewohnt ein Fünfzigpfennig-Stück in den löchrigen Hut, der vor dem kopfkissengroßen, infarktverdächtig quakenden Verstärker lag. Dann umfing ihn der anheimelnde Duft des Kaffeegeschäfts, das im hinteren Raum flüchtenden oder die Seite wechselnden Kämpfern wie ihm eine weitgehend anonyme Zuflucht bot.
Hierher kamen gewöhnlich nur klapprige Leutchen aus dem nahen Altersheim, verirrte, frierende Bummler und natürlich ein paar Insider, die den Duft, die Abgeschiedenheit und Unaufgeregtheit dieses Etablissements zu schätzen wussten. Er setzte sich in eine der Nischen, legte Schal und Jackett auf den nächsten Stuhl und bestellte bei der herbeieilenden Kellnerin einen Espresso und einen Cognac. Erst als er ihr nachsah, fiel ihm ein, an wen sie ihn erinnerte. Gut proportioniert, ansprechendes Alter, aber eine Brille für ungefähr dreihundert Dioptrien auf der Nase. Die Augen hinter den Gläsern hätten einem Methusalem unter den am tiefsten tauchenden Kraken angestanden. Das Mädchen im Buchgeschäft, genau. Da hatte er ja auch wieder einmal hingehen wollen. Aber Andrea, der Job, eine neue Serie von Erbauungsgeschichten für den Priester und in letzter Zeit das existentielle Problem mit Wilma hatten ihn darüber hinweggebracht. Jemand ging hinter seinem Rücken vorbei und brachte dabei seinen Cashmereschal ins Rutschen, den er achtlos über die Lehne des Stuhls gelegt hatte. Bevor der edle Stoffstreifen noch den Boden berührte, war er aufgefangen und liebevoll an seinen alten Ort gelegt. „Sorry“, sagte eine nüchterne, kühle Stimme.
Er drehte sich um. Die sehr schlanke Frau setzte sich eben zwei Tische weiter hin. Ein markantes, fast strenges Gesicht mit schmaler, gebogener Nase, ebenmäßig und irgendwie düster. Dann erkannte er sie. Das war das arrogant wirkende Mädchen, das neulich mit Martha im Schützenhof das Drama mit Andrea hatte miterleben dürfen. Er lächelte und nickte ihr zu, aber sie schien ihn nicht zu bemerken.
26. THEIRESIAS
Komisch ... scheint heute nicht zu kommen ... auch mal nett ... einfach dasitzen, trinken ... keine endlosen Monologe ... über seine vielen Frauen ... ob das alles wahr ist ... wahrscheinlich schon ... wäre sonst ziemlich gut erfunden ... bringt nie etwas durcheinander ... ich weiß nicht, ob ich ihn beneiden soll ... manches klingt doch eher unerfreulich ... und dazu benötigt man keine großen Stückzahlen ... habe ja selbst ein Problem ... und das mit meiner zweiten ... na ja, eigentlich ersten richtigen Freundin ... was solls ... bin halt ein Spätstarter ... und ein ungeschickter noch dazu ... ich weiß nie, wie ich mich verhalten soll ... und Christiane reagiert immer so aggressiv ... dabei will ich alles richtig machen ... nur soll sie mich leben lassen ... sie übt Druck aus ... übte, sollte ich wohl sagen ... ohne es zu wollen, wahrscheinlich ... sitzt jetzt mit einem kleinen Mädchen in den Staaten ... was für eine dumme Geschichte ... so irrational ... rennt weg, verlässt Land und Freunde ... ohne Geld, ohne Visum ... und lässt sich von einem Ami schwängern ... wenn sie ihn festgehalten hätte, könnte sie drüben bleiben ... würde Amerikanerin ... oder wenigstens das Kind ... aber er ist weg ... sagt sie ... niemand kennt ihn ... war wohl eine große Freiluft-Veranstaltung ... eine Menge Zugereiste ... Barbecue, Rodeo, Live-Bands ... und plötzlich dieser Typ, der sie in einen Heuschober zieht ... und sie ... na ja, und wenn schon ... wenn es ihr Spaß macht ... ich war ihr zu langweilig ... langweiliger Beamtenjob, langweilige Skulpturen ... langweilige
Weitere Kostenlose Bücher