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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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ich ein Bär in einem Rehrudel war. Und darunter befand sich ein höchst anziehendes aschblondes Rehkitz. Ich hatte keine Erfahrung mit solchen Tierchen und fühlte mich entsprechend unwohl. Ziemlich überrascht war ich daher, als sie mich fragte, ob ich mit ihr zum Mittelball gehen würde. Nicht, weil eine solche Frage früher mal nur von Männern gestellt werden durfte, sondern weil ausgerechnet dieses wundervolle Geschöpf mich ansprach. Ich hatte wegen absoluter Disharmonie der Bewegungen schon einen Abbruch des Kurses in Erwägung gezogen. Was ist das Gegenteil von Anmut? Unmut? Egal. Ich hätte ablehnen können, aber das brachte ich nicht übers Herz. Sie war einfach zu anziehend.
    Also sagte i ch schüchtern zu und hoffte, dass ich nicht allzu oft bis vier oder acht oder dreihundertsiebenundfünfzig zu zählen haben würde. Oder bis wohin man bei diesen Tänzen zählen muss. Ich weiß es wirklich nicht mehr. Gut, ja, den Fox kann ich auch heute noch ausrechnen, aber ich kann ihn definitiv nicht mehr tanzen.
    Wir hatten vorher noch zwei Tanzstunden, in denen wir trainingshalber überwiegend miteinander zu tun hatten. Ich von Takt zu Takt wankend, Blick auf die in glänzendes schwarzes Leder eingezwängten Füße wie die meisten anderen männlichen Dilettanten. Sie dagegen umschwamm mich auf filigranen, gleitenden Wellen.
    Was für ein Gegensatz! Ich könnte heute noch erröten, wenn ich mir diesen Klotz neben dieser Elfe vorstelle. Natürlich lernten wir uns dabei kennen. Carla studierte irgendetwas Schwieriges, Medizin oder Betriebswirtschaft. Genau! Medizin, denn der Vater war ja niedergelassener Arzt. Kam also aus wohlhabendem Elternhaus. Sehr gute Erziehung, Ausbildung auf einer Privatschule, exquisiter Geschmack, interessiert an Kunst. Na, wäre das nichts für dich? Die käme dir sofort drauf, wenn du Rodin kopierst.
    Danke, Andrea. Nein, jetzt nicht. Ich unterhalte mich gerade mit Theiresias. Nachher, ja? Hm. Was sie wohl will? Egal. Carla war klein und zart und doch irgendwie eine Nummer zu groß für mich. Ich muss gestehen: Ich sah ein wenig zu ihr auf. Da stimmte einfach alles. Und sie hatte alles. Nicht, dass mir das damals klar war. Ich wusste nur, dass ich nicht einfach verliebt war, sondern außerdem neidisch. Und Neid bedeutet natürlich, dass du an anderen etwas bewunderst, was du selbst nicht hast. Und daher etwas weniger wert bist.
    Weißt du, ich mag Frauen ja sehr. Aber ich mag auch schönen Schmuck. Und Carla war komischerweise beides. Etwas, das man gern anfassen und an sich pressen will, allerdings mit der gehörigen Vorsicht, damit nichts kaputtgeht.
    Wir gingen auf den Ball. Ich war nobel gekleidet. Das war ich ihr schuldig. Hatte mir für diesen Anlass einen neuen schwarzen Anzug gekauft, der mir wie angegossen saß. Aber sie sah aus wie eine Feenkönigin in ihrem langen, schulterfreien Kleid. Was für wundervolle Schultern! Ich habe nie wieder so einen perfekten Torso gesehen. Zusammen machten wir jedenfalls eine recht gute Figur, solange wir nicht auf der Tanzfläche waren. Ich habe noch ein Foto, das aufgenommen wurde, als wir an der Bar standen. Zeige ich dir mal. Als der Fotograf den Auslöser drückte, hatte ich sie wahrscheinlich gerade gefragt, ob sie mich mag. Und sie hatte ja gesagt.
    Auf dem Bild kann man buchstäblich die Pause nach diesem Geständnis sehen, in der wir uns schweigend fragten, wie es jetzt wohl weitergeht. Ein wenig nachdenklich, aber auch erleic htert und neugierig. Und ich wusste wirklich nicht, wie ich weiter vorgehen sollte. Ein normales Mädchen hätte ich gefragt, ob sie Lust hätte, nachher bei mir noch ein Glas zu trinken. Oder, bei einem offeneren Typus, ob sie nicht bei mir schlafen wollte. Bei Carla ging das nicht an, dachte ich. Sie im Taxi nach Hause bringen, und dann: Auf Wiedersehen? Das war keine besonders sympathische Variante. Ich wollte natürlich wissen, ob sie auch sonst so perfekt war.
    Wir kehrten von der Bar an unseren Platz zurück. Ich hatte mir für meine Zuneigungsfrage ein wenig Mut antrinken müssen. Als ein Pärchen im Taumel eines schnellen Tanzes auf uns zudrehte, machte ich eine ungeschickte Ausweichbewegung, verhakte mich mit dem einen Fuß in den Falten von Carlas langem Kleid und knallte wie ein mittelschwerer Meteorit mitten auf die Tanzfläche. Da ich sie am Arm hielt und in der anderen Hand ein Sektglas trug, konnte ich den Sturz nicht abfangen. Ich zerschellte zwar nicht gerade, prallte aber mit Nase und Stirn

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