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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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gleichzeitig ein Frösteln entlang ihrer Wirbelsäule entstehen ließ. „Lasst mich in Ruhe, mein Freund kommt gleich“, stieß sie atemlos hervor und fühlte, wie ihr Herz ihren Brustkorb in Aufruhr versetzte und wie ihr plötzlich schlecht wurde. „Scheiße, bei diesem Wetter sitzt der lieber vor dem Fernseher und wartet auf das Essen. Komm, Schätzchen, du gehst jetzt mit uns. Wir wollen deine Freunde sein.“ Und alle drei grinsten dreckig, wie sie es bei Bruce Willis gesehen hatten. Das Messer zerschnitt mit einer kurzen, präzisen Bewegung die Einkaufstüte in Marthas Hand, deren Inhalt leise zu Boden fiel. Ein Griff in ihre Haare, ein heftiger Zug daran, so daß ihr Kopf nach vorne schoss und sie taumelte: „Oder sollen wir es gleich hier mit dir machen?“
    Sie mühte sich vergeblich, die Hand aus ihrem Haar zu lösen, und keuchte: „Wollt ihr Geld? Hier, ich habe noch ...“ Und sie versuchte, an beiden Armen gehalten von den Spießgesellen, in ihre Handtasche zu fassen. E in Lachen, dann ein heftiger Riss an ihrer Bluse, von oben nach unten. Alle Knöpfe sprangen ab, Feuchtigkeit ließ sich auf ihrem Büstenhalter und ihren Brüsten nieder. Da schrie sie. Sie hörte ihre Stimme in ihrem Kopf widerhallen und dann im Nebeldunst ertrinken. Sie hörte schnelle Schritte, ein sausendes Geräusch – wie eine Taube, die sich durch die Lüfte schwingt – und dann das Scheppern von Metall auf Stein. Ein heller Blitz auf dem schwarzen Boden. Noch einmal das Sausen, und im Gesicht des Messerhelden öffnete sich ein kleiner Mund, aus dem roter Speichel rann. Nochmal das Sausen, und einer der sie haltenden Gehilfen ging stumm und verkrümmt zu Boden. Der Griff in ihr Haar löste sich, der Griff um ihren Arm löste sich, und zwei Raben mit schwarzglänzendem Gefieder flogen aufgescheucht davon.
    Sie saß auf dem Boden neben dem gefällten Angreifer. Mit den Schultern an die Hauswand gelehnt stand schwer atmend ihr Befreier: ein Mann, etwas älter als sie, mit schütterem Haar und randloser Brille, der eine ausgebeulte Aktentasche in der Hand trug. „Entschuldigung“, sagte er nach einer Weile mühsam. Dann schüttelte er den Kopf. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Er stellte die Tasche ab, bückte sich zu dem regungslos liegenden Jungen herab und fühlte am Hals nach dem Puls. „Gott sei Dank, er lebt. Das hätte ich mir nie verziehen“, und er richtete sich wieder auf. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Kann ich kurz hier im Laden telefonieren? Oder soll ich bleiben?“
    Martha fror. Sie fror ganz unvernünftig stark, kam ihr vor. Sie zitterte so sehr, dass ihre Ohrgehänge leise klingelten. Sie hielt ihre Bluse über der Brust zusammen und fühlte, wie ihre Tränen kühle Pfade über die Wangen und die Nase bahnten. Warum? Warum wollten sie ihr etwas tun? Sie tat doch niemandem etwas. Ihre Hose war nass geworden. Es wurde kalt am Hintern, und sie zitterte so. Wer war der Mann? „Wer sind Sie?“, fragte sie leise, und ihr war, als tropften die Worte mit dem Nieselregen und den Tränen unbemerkt und ohne Geräusch auf den Boden. Doch dann seufzte der Mann, und er sagte: „Das erzähle ich Ihnen später. Bitte, stehen Sie auf! Sie holen sich eine böse Erkältung, wenn Sie in der Nässe sitzen bleiben.“ Er half ihr auf und nahm sie eine Weile in die Arme, um sie zu erwärmen. „Also gut. Jetzt gehen Sie in dieses Friseurgeschäft und rufen die Polizei. Ich bleibe so lange bei dem armen Würstchen, das nun endgültig in der Gosse gelandet ist.“ Er schob sie auf den Eingang des Ladens zu und hockte sich neben die regungslos daliegende Gestalt.
    Die Polizei brachte einen Krankenwagen mit. Als der den noch immer regungslosen Verletzten mit heulender Sirene davongef ahren hatte, wurden sie von der Streifenwagenbesatzung – einem älteren Beamten und einer jungen Frau mit hartem Gesicht – verhört. Kannten Sie die Leute? Nein, nie gesehen. Was haben die zu Ihnen gesagt? Was haben die getan? Haben Sie sie provoziert? Wie sahen die beiden anderen aus? Was, zum Teufel, haben Sie da in Ihrer Aktentasche? Einen Backstein? Und warum? Lange Gespräche, viele Fragen. Martha kam in dem überheizten Friseurladen mit den freundlichen, verständnisvollen Inhabern langsam wieder zu sich.
    Sie erhielt heißen Tee, knabberte freudlos an anatolischem Gebäck und wehrte immer wieder die Einladung ab, sich auf der Liege im Nebenzimm er ein wenig hinzulegen. Sie musste nach Hause! Sabrina kam. Bei dem Gedanken musste

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