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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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nicht.“ E r blieb stehen, fasste sie bei den Schultern und drehte sie zu sich. Er lächelte sie an: „Ich schreibe nämlich. Eigentlich Drehbücher für den Film. Jedenfalls habe ich das lange gemacht. Aber ich hatte irgendwann genug davon, aus schlechter Literatur Vorlagen für mehr oder weniger gute Filme fertigen zu müssen.“ Sein Atem stieg als Nebel zwischen ihnen auf. „Jetzt bin ich mitten im Leben gelandet. Ich schreibe über Menschen wie Sie und mich. Und das führt dazu, dass ich manchmal da bin, wo die Menschen sind. Da haben Sie die Antwort.“
    Sollte das eine Erklärung sein? Sie schob ihn an und ging schweigend Hand in Hand mit ihm weiter. Ihre Schuhe schmatzten auf dem Pflaster. Die winzigen Tröpfchen auf ihren Gesichtern, ihren Haaren und ihrer Kleidung spiegelten die Welt in eine für Menschenaugen unsichtbare Größe zurück. Ein paar Häuser weiter gab es ein Bistro, wo sie ihren Kaffee trinken konnten. „Na und? Weiter“, sagte sie schließlich. „Das erklärt nichts. Sie schreiben. Ich arbeite in einer Arztpraxis und war einkaufen. Wo ist der Zusammenhang?“
    Sie tauchten ein in einen Schwall von aromatischen Gerüchen, in ein Konzert von gedämpften Stimmen, und sie brachten neue, kunstvolle Verwirbelungen des Rauchs hervor, der vor der kurz geöffneten Tür in die Tiefen des Raumes floh. Sie fanden einen freien Tisch, hängten ihre Mäntel über die Stuhllehnen und setzten sich. Aus Scheu, den Augen des anderen zu begegnen, taten sie so, als würden sie sich für das anwesende Publikum interessieren: überwiegend Menschen ihres Alters, manche studentisch anmutend, andere offensichtlich in ertragreichen Stellungen installiert. Da fanden sich immer noch die mit Lamas verzierten, verfilzten Strickpullover, in endlosen Vorlesungen angefertigt und trotz Handwäsche völlig formlos, und Latzhosen mit lilafarbenen Aufnähern. Aber auch feinstes Cachmere und glitzernde Schweizer Luxusuhren an schmalen Handgelenken. Eine anheimelnde, von positiven Einstellungen geprägte Atmosphäre: die Arrivierten und die zum Arrivieren Entschlossenen. Auch wenn sie es vielleicht noch gar nicht wussten.
    Aber kultiviert ging es zu. Hohe Gläser mit Cocktails in allen denkbaren Farbmischungen, daneben Fläschchen des gerade aktuellen Trendwassers, Espressotassen und erstaunlich viele Zigarettenpäckchen. Es qualmte aus nahezu allen Mündern und Aschenbechern. Offenbar galt das Rauchen bei jungen Intellektuellen doch nicht als Stigma unterprivilegierter Minderheiten, wie manche Medien im Einklang mit der staatlichen Gesundheitspolitik ausdauernd und je nach Genre mehr oder weniger fanatisch behaupteten. Es stank ja auch nicht. Der Rauch kondensierte die umherwabernden Luftmassen zu Wärme, weich gebrochenem Licht und einer Mischung unterschiedlicher Düfte: in die üppige, träge Sinnlichkeit eines orientalischen Harems.
    Ein Mädchen tauchte unversehens aus dem Dunst auf, offensichtlich eine Studentin mit Nebenverdienst. Sie unterschied sich kaum von ihren Kommilitoninnen. Nur die im Gürtel steckende Geldtasche wies sie als Bedienung aus. „Einen Espresso, ein Wasser und einen doppelten Grappa“, bestellte Martha und zündete sich nun auch eine Zigarette an. Der Autor betrachtete sie lange, wie sie weich wallende Rauchschwaden aus Mund und Nase stieß, und wollte dann auch einen doppelten Grappa. „Mehr nicht?“ fragte das Mädchen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Auf ein Kopfschütteln hin verschwand sie hinter einem Vorhang aus zurückweichender, wirbelnder Gaze.
    „Sie wollten doch etwas gegen den Hunger?“ Er schien in ihrem Gesicht einen kleinen Magneten entdeckt zu haben, der seine Augen anzog. Er war etwas älter als sie. Er war mittelgroß. Er trug unmögliche Kleidung. Er schwitzte. Aber er war nicht nur ihr Retter. Er war auch sehr sympathisch. Er er schien zuverlässig. Er war gewiss jemand, der zuhörte, abwog und nach seinen Möglichkeiten half. „Ach, mir ist jetzt eher nach etwas sorgenloser Entspannung. Also, Herr Autor: Wo ist der Zusammenhang? Ich heiße übrigens Martha.“ Er schaute düster drein: „Ich weiß. Entschuldigung. Mein Name ist Leo – eigentlich Leonhard. Der Zusammenhang ist ganz einfach.“
    Ein junger, elegant gekleideter Mann erhob sich, wurde bleich und erbrach sich über den Nachbartisch. Er wurde von plötzlich auftauchendem Personal unauffällig außer Sicht geschafft. Taschentücher begannen zu flattern. „Wissen Sie, als ich die Drehbücher aufgab,

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