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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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sie wieder weinen. Wenn doch jemand da wäre, der ihre Hand hielte, sie beschützte und seine Schulter als Stütze böte!
    Sie fühlte sich leer, erloschen und beschmutzt. Nichts und niemand war für sie da. Sie war allein. Nur ihr Retter lehnte anscheinend gefasst neben ihr an einer Wand, bläuliche Schatten unter den Augen und tiefe Falten um die Mundwinkel. Er sprach kurz und scharf, beantwortete die Fragen knapp und sachlich, als würde er seine Emotionen bewusst unterdrücken. Schließlich verschwanden die beiden Polizisten. Martha sah das über das weichzeichnende Fenster zuckende, verwaschene Blaulicht abrupt verlöschen und das Abblendlicht des Polizeiwagens aufstrahlen, hörte das schwächer werdende Brummen des Motors. Es herrschte Stille. Zum ersten Mal seit der Anrede durch den Messerhelden war es ruhig.
    Seine Stimme war tief. Sie vibrierte leicht, als er sich bei dem Friseurehepaar höflich wegen der Unannehmlichkeiten entschuldigte und seinen Dank aussprach. Er sagte Sätze, die wie einem Buch entnommen wirkten: mit einem Leuchtmarker angestrichene Passagen aus einem Roman von Thomas Mann. Der Friseur und seine Frau nickten, lächelten froh und warfen sich bedeutsame Blicke zu. Sie schienen sich zu fühlen, als wären sie vom Bundeskanzler persönlich vor der gesamten Nachbarschaft mit einem hohen Orden ausgezeichnet worden . Komisch, dass er das konnte. Er wirkte eher unscheinbar mit seinen dünnen, braunen Haaren, seiner Brille und einer Art von halboffizieller Kleidung, die auf individuelle Accessoires vollständig zu verzichten schien. Ein Buchhalter vielleicht, der subalterne Angestellte einer Bank. Aber wenn er sprach, übertraf er jeden ihr bekannten staatlichen Repräsentanten – einschließlich John F. Kennedy, für den sie seit Kindheitstagen schwärmte und der nun auch schon viele Jahre tot war.
    „Kommen Sie, wir gehen!“ Er zog sie sanft hoch und drängte sie zum Ausgang. Er war der Held dieses Abends – wie sollte sie sich sträuben? Und sie hatte ja niemanden sonst, der sich um sie kümmerte. Sabrina war sicher nach zweimaligem Klingeln wütend wieder gegangen, wie es ihrer Art entsprach: keine Spielchen, ke in Auf-die-Probe-stellen, keine Unzuverlässigkeiten. Alles todernst. Anrufen konnte sie jetzt auch nicht mehr. Zwar hatte sie eine wirklich gute Entschuldigung, aber nach dem verpatzten Abend neulich traute sie sich nicht. Wie gut auch ihre Gründe waren: Es lag schließlich an ihr, dass ihre Zusammenkünfte schon zum zweitenmal nicht ihren gemeinsamen Wünschen entsprachen. Es blieb eine vage Spur von Schuld an ihr haften, die ausreichen würde, um in Sabrina die Bosheit zu wecken.
    „Haben Sie etwas vor? Oder darf ich Sie noch zu einem Kaffee einladen?“ So mit ihr allein war er scheu. Warum? Er war so sicher gewesen mit den jugendlichen Gangstern, mit den Polizist en und den Friseurleuten. Er fasste nach ihrem Arm und ließ seine Hand ganz leicht darauf liegen: wie ein verliebter Schüler, der mit einer Zurückweisung rechnet. So gingen sie die jetzt völlig ausgestorbene Straße entlang, schwammen durch den Dunst von Lichtinsel zu Lichtinsel. Nein, sie hatte nichts mehr vor. Sie hatte schon genug erlebt heute abend. Sie wollte nur noch unkomplizierte Gesellschaft, seichtes Geplauder mit einem netten Mann und irgendwo dazugehören. Also sagte sie: „Ja, das wäre nett. Ein heißer Kaffee und ein kleines Stückchen Mohnkuchen gegen den Hunger. Gern!“
    Ihr Blick wanderte zu ihm herüber. Er trug seine schäbige, ausgebeulte Aktentasche, aber daneben hing ein Stoffbeutel mit dem aufgedruckten Namen des Friseurgeschäfts, aus dem oben die Kunststoffverpackung der Krabben hervorsah. „Sie denken an alles, od er?“, fragte sie und fasste nach seiner Hand. „Also: Wer sind Sie nun? Hauptberuflicher Retter junger Frauen? Backsteinmörder auf Abwegen? Oder einfach ein Mann, der ungewöhnliche Methoden der Kontaktanbahnung bevorzugt?“ Sie bemerkte, dass sie schon wieder kokett sein konnte, und freute sich darüber. Er verflocht unbewusst seine Finger mit ihren. Dadurch geriet der alte Siegelring in schmerzhaften Kontakt mit den benachbarten Knochen. Sie fand das Ding eigentlich hässlich, trug es aber aus Loyalität gegenüber der Familie immer – außer im Bett.
    Sie zuckte leicht zusammen, bereute diese unnötige Reaktion aber sofort. Denn er lockerte augenblicklich seinen Griff: „Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht weh tun. Es war einfach Zufall. Oder auch wieder

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