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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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im Kino, nicht im wirklichen Leben. Sie hatte alles im Überfluss, was für eine höchst exquisite Erotik notwendig ist. Sehen, spüren, riechen, schmecken, hören: Meine Sinne wurden von ihr in Einzelhaft genommen. Aber sie hielt sich für normal und für durchschnittlich.
    Dabei war sie ein Ausnahmemensch mit einem schrecklichen Manko – sie hatte das Begehren verloren. Und damit auch das Gefühl für Menschen, die sie als Ganzes, als Mensch und weibliches Tier, abgöttisch liebten. Sie begriff das nicht. Einmal war ich mit ihr im Kino. Der Letzte Tango. Hinterher, als wir in einer Kneipe saßen, sagte sie: Was die sich ausdenken – so ein Quatsch! Ich nahm schließlich den Telefonhörer nicht mehr ab, so schwer es mir auch fiel. Sie sprach mir einige Male auf den Anrufbeantworter, immer lieb und sogar ein wenig schu ldbewusst. Dann, als ich niemals antwortete und ihre Terminvorschläge nicht wahrnahm, ließ sie es sein. Und das war es. Glaub mir: Noch heute bin ich überzeugt, dass sie etwas Besonderes war. Und dass leider den meisten von uns Männern der Schlüssel zu einer solchen außergewöhnlichen Frau fehlt. Dass es diesen Schlüssel aber geben muss. Schade, dass ich ihn nicht besaß. Ich habe mich damals sehr danach gesehnt. Komm, wir zahlen.

19. ZWEISAMKEIT
     
     
    Ein Lichtermeer! Nun ja. Als alle Pfützen zusammenflossen, wurde wenigstens ein leicht bewegter Tümpel aus Kerzenlicht daraus – groß genug für den Raum. Jedenfalls eine lebendige, warme Beleuchtung, die die zarten Perlen auf der grünen, betauten Flasche zu einem munteren Funkeln brachte. Sie trug das lange, enge Baumwollkleid mit dem Rundausschnitt. Kein Büstenhalter. Sie wollte absolut nicht sexy sein. Sie hatte einfach beim Anziehen nicht darüber nachgedacht. Vielleicht wollte sie andeuten, dass dieser Abend unter Frauen völlig ohne Zwänge verlaufen sollte: kein Kleiderritual, kein Verbergen und Zähmen der Weiblichkeit, freies Schwingen von Formen und Gedanken.
    Vielleicht war es auch ein Tribut an den fast männlich wirkenden Habitus von Sabrina. Sie hatte sich kaum geschminkt, nur leicht parfümiert nach dem Duschen: Sie war feminin und gelassen und weitgehend natürlich. Kein Weibchenkram. Sie wollte diesen Abend nicht durch Künstelei herabwürdigen. Zwei kluge, attraktive Frauen unter sich. Reden, gemeinsame Zubereitung des leichten Essens, dabei eine oder zwei Zigaretten, ein Gläschen Sekt und sanfte Musik. Bach. Saint-Saens. Lachen, vielleicht schon ein paar Insiderspäße, gemütliches Zurücklehnen nach dem Steak mit Bohnen, die zweite Flasche. Ein wenig Hitze, brausende Gedanken. Noch ein wenig Mousse? Puh, Martha, bei dir werde ich noch fett. Aber sie würde nicht ablehnen. Der Abend war zu harmonisch. Da konnte auch Sabrina nichts abweisen.
    Plötzlich war es acht Uhr. Seltsam. Sie kam zu spät. Sabrina war in der Praxis immer pünktlich, so dass jede Mitarbeiterin, die nach ihr kam, während der Arbeitszeit eine Sträflingskugel aus bleierner Schuld mit sich herumtrug. Martha ging noch einmal aufmerksam durch die Wohnung, sah nach den Rumpsteaks, die leicht blutig auf einem Brettchen neben dem Herd ruhten, stellte die Platte unter der Pfanne ab, in der das Fett schon bräunlich zu schäumen begann, und naschte aus der Schüssel mit Mousse au Chocolat. Alles war an seinem Ort. Alles war geputzt, anheimelnd sauber und duftend.
    Das Bett frisch bezogen, die Batterie von Fläschchen und Flakons im Bad abgestaubt und ausgerichtet – diese kleine Armee, die noch heute morgen stolz ihre Versehrungen aus den vielen Schlachten im Dienst der Schönheit präsentiert hatte. Da! Ein Fetzchen Toilettenpapier war ihr entgangen. Es lag mit seltsam asym metrischen, ausgefransten Risskanten neben dem kleinen weißen Eimer mit Klappdeckel, der neben der Toilette wohnte. Ein unregelmäßiges Parallelogramm, auf dem sich mit Mühe die knappe Hälfte einer Kamillenblüte hielt. Wann war ihr das heruntergefallen? Und wie war diese eigentümliche Form entstanden? Egal. Dieser kleine, rückgratlose Geselle zeugte von Unachtsamkeit, Unordnung, Schlamperei. Wie ein preußischer Feldwebel hatte sie die Wohnung inspiziert – und das war ihr entgangen!
    Gab es noch andere derartige Versäumnisse in der Wohnung? Obdachlose Gegenstände, die bei Sabrina ein ganz anderes Bild hervorrufen würden, als sie selbst es von sich und ihrer Umgebung hatte? Sie sah sich um, ging erneut von einem Zimmer ins andere, überprüfte jedes Detail. Unter dem

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