Varus - Historischer Roman
der Boden flach war und feucht, betrachtete Thiudgif die verwelkten Dolden und zerrte dicke, erdige Wurzeln aus dem Boden, an denen sie prüfend roch, etliche Möhren und zwei verkümmerte Rüben. Zufrieden trug sie ihre Ernte zum Bach, wusch sie und schabte mit einem Messer die äußere derbe Schicht ab. Neben ihr tauchte Sura ihre bläulich verfärbten Hände ins Wasser und sah zu, wie die bunten Schlieren sich in der Strömung verloren.
»Was ist mit Tata?«, fragte sie scheu.
Verwundert schaute Thiudgif sie an.
»Mein Vater …«, fügte das Mädchen hinzu. »Werde ich ihn wiedersehen?«
Thiudgif nahm eine geputzte Möhre von ihrem Schoß und bot sie Sura an, die unschlüssig danach griff.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, zugleich krampften sich ihre Eingeweide zusammen, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Rasch wandte sie sich ab. »Aber ich weiß, er will, dass ihr lebt, du und deine Mutter.«
Sie biss sich fest auf die Unterlippe, als könnte sie damit den Schmerz, der in ihr wühlte, übertönen.
»Vermisst du Titus Annius? Hast du Angst um ihn?«
Heiß rannen die Tränen über Thiudgifs Wangen, während sie nickte, ohne das Mädchen anzusehen; blind starrte sie auf die Sträucher und Binsen am anderen Ufer. Sie hörte das frische Knacken, mit dem Suras Zähne die Möhre zerbissen, dann legte sich eine warme, ein wenig klebrige Hand auf ihren Arm.
»Es tut mir leid«, murmelte das Mädchen. »Und ich bin auch noch so eine Gans, die immer nur jammert …«
»Du bist ein Kind, Sura.« Thiudgif erfrischte das Gesicht mit zwei Handvoll Wasser.
»Und du nicht viel älter als ich«, versetzte das Mädchen. »Aber du hast schon einen, der dich mag.«
Den ich schon wieder verloren habe, dachte Thiudgif wehmütig. Sie stand auf und kehrte zu den anderen zurück, die noch immer eifrig Mund und Hände mit schwarzen Beeren füllten, zu Amra, die für sich allein sammelte, und Sura schmiegte sich an Thiudgif, federleicht wie ein Vögelchen.
Thiudgif und Amra saßen mit Sura ein wenig abseits und behielten den Wald im Auge. Amra traute den anderen nicht.
»Es sind Huren«, sagte sie leise. »Solange sie dich brauchen, lassen sie uns mit ihnen gehen, aber sie würden uns ohne die geringsten Bedenken opfern, wenn ihnen das weiterhülfe.«
Hungrig verschlang Sura die überreifen Beeren, die ihre Mutter gesammelt hatte, bevor sie gehorsam von den Wurzeln aß. Obwohl sie ihr ungekocht nicht schmeckten, kaute und schluckte sie, während sie in den dunstigen Wald hinaufschaute. Essen vertrieb die Angst; auch die anderen Frauen wirkten nicht mehr so gehetzt, sondern schwatzten und kicherten, als befänden sie sich in der Sicherheit eines gemauerten Hauses.
Thiudgif nagte an dem süßen Inneren einer Möhre, das sie sich aufgehoben hatte. Ihre Gedanken kreisten um Annius, wo er sei, wie es ihm gehe, ob er in Kämpfe verwickelt oder gar verletzt sei. Hart schluckte sie, um den Gedanken nicht zu Ende zu denken, schloss die Augen, richtete ihre Sinne auf die Geister der Ahnen, die sie schon lange nicht mehr angerufen hatte. Sie fühlte die letzten Beeren in ihrer Hand, die sie als süßen Abschluss dieses kargen Mahls aufgehoben hatte, und blinzelte. Ein paar Schritt entfernt ragte auf der Lichtung, kurz vor dem Waldrand, wo noch Gras wuchs, Binsen und niederes Gebüsch, ein Fels aus dem Boden, der ihr bis zu den Knien reichen mochte. Der musste genügen.
Mit einer Handvoll schwarzer Beeren, die sie noch flink gepflückt hatte, und zwei großen Blättern, das Haar unter dem Umhang verborgen, näherte sie sich dem Fels, kniete davor nieder, bettete eines der Blätter in eine Mulde und ordnete die Beeren darauf im Kreis an. Das andere Blatt legte sie daneben. Wieder sammelte sie sich, murmelte tonlos die Anrufungen der Ahnen, die Mutter und Tante sie gelehrt hatten, hielt dann inne, um das Gesagte wirken zu lassen,
bevor sie mit den Fürbitten begann, die sie sich zurechtgelegt hatte. Sie bat um Schutz für ihren Vater und den heimischen Herd, mit ein wenig Überwindung auch für das Haus des Onkels und die Menschen darin, dann für sich selbst, dass sie den Weg zum väterlichen Dorf finden möge, für Amra und deren Tochter, die so viele Regeln befolgen mussten, um ihren eifersüchtigen Gott günstig zu stimmen, und alle, die bei ihnen waren. Für eine glückliche Ankunft in Aliso.
Und dann kämpfte sie wieder mit den Tränen, als sie für den betete, der ihre Familie und damit auch die Ahnen vor Schmach
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