Varus - Historischer Roman
verstand Thiudgif kein Wort. Nur so viel begriff sie, dass Sura die Abreise hinauszögern wollte.
Wie ein heißer Guss traf Thiudgif die Sehnsucht nach den Tagen ihrer Kindheit. Mit einem Mal glaubte sie sich auf dem Boden des väterlichen Hauses, auf einer dicken Wolldecke, in den Händen ihre Rupfenpuppe. Ihre Nase füllte sich mit dem Geruch von Dörrfleisch, Kräutern und Rauch, und über ihr rauschte Regen auf dem Reetdach. An der Herdstelle kauerte ihre Mutter und rührte in dem Topf auf dem eisernen Dreifuß, dem kostbarsten Gerät, das sie besaß. Die Bilder waren so lebendig, dass ihr der Rauch in die Augen biss. Hastig fingerte sie den kleinen Lappen unter dem Gürtel hervor, wischte sich die Tränen weg und schnäuzte sich.
»Komm, Mädchen!«
Amra stand vor ihr, an der Hand ihre Tochter. Um Kopf und Schultern hatten sie die großen Manteltücher, mit denen sie sich außerhalb des Hauses verhüllten, geschlungen. Während sie zur Hintertür gingen, eilte Thiudgif in die Stube, langte nach dem Umhang und folgte ihnen hinaus, wo
die Magd neben dem Maultierkarren wartete. Das zahnlose Weib, Gita geheißen, half Sura unter die Lederplane des Karrens, dann stapfte sie zu dem Zugtier und versetzte ihm schnalzend einen Klaps auf die Kruppe, dass es sich in Bewegung setzte. Als Thiudgif sich mit einem Blick vergewisserte, dass ihr Tragesack auf der Ladefläche lag, streckte Sura ihr die Zunge heraus, wohlwissend, dass ihre Mutter sie gerade nicht sah. Thiudgif beeilte sich, nach vorn neben das struppige Tier zu kommen, um die Fratzen nicht mehr ansehen zu müssen.
Als sie die letzten Hütten hinter sich ließen, riss sie die Augen auf. Auf dem weiten Platz außerhalb der Siedlung sammelten sich zahllose Wagen, hochauf beladen mit Kisten und Säcken; sie erkannte Geschütze für Bolzen und Steine, kleine Herden aneinandergekoppelter Pferde und Maultiere, Rinder und Schweine. Doch was auf den ersten Blick ungeordnet erschien, zeigte sich beim Vorübergehen als klare Aufstellung der Wagen in Reihen.
Gita führte das Maultier zu einer Ansammlung von Menschen mit Karren und Tieren. Das aufgeregte Schnattern der Frauen übertönte das Schnauben der Pferde, das Knarren und Knirschen der Achsen und Räder, selbst das wütende Gebell einiger Hunde. Leutselig mischte Amra sich unter die Frauen, Sura sprang vom Wagen, gesellte sich zu anderen Mädchen, von denen zwei ebenso verhüllt waren wie sie. Kichernd umarmten sie einander, tanzten einen flinken Reigen. Thiudgif blieb neben dem Maultier stehen, tätschelte den Hals des Tieres, das auf seinem leise klirrenden Gebiss kaute und mit den Ohren spielte. Sie kannte hier niemanden. Eine Frau lächelte ihr zu, doch sie konnte sich nicht erinnern, sie je zuvor gesehen zu haben. Vielleicht auf dem Markt. Vielleicht auch am Fluss, wenn sie waschen gegangen war.
Ein hässliches Bild erwachte in ihr, Männer, die einen Körper ins Wasser stießen, wildes Gurgeln, Keuchen - sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. Die fremden Mädchen starrten sie an und schnitten spöttische Grimassen.
Nach Hause.
Thiudgif krampfte die Hände ineinander. Sie konnte doch nicht allein durch die Wildnis. Sie wusste ja nicht, wohin sie sich wenden musste. Ohne Hilfe käme sie nicht weit. Ein Schluchzen würgte sie. Wenn ihre Mutter noch lebte, wäre das alles nicht geschehen. Doch der Vater hatte nichts mit ihr anzufangen gewusst und sie fortgeschickt. Zu einem Onkel, der seine Abgabe nicht zahlen konnte, was ihr zum Verhängnis geworden war. Sie ballte die Faust, schlug auf das Holz des Karrens ein und schrie leise auf. Splitter steckten in ihrem Handballen, die sie mit den Fingerspitzen herauszupfte, während die Tränen von ihrem Kinn tropften.
Vom anderen Ende des weiten Platzes erschallten blecherne Instrumente, sie erkannte hell schmetternde Bucinen, unterlegt vom satten Klang der Tuben und Hörner. Dann erhob sich Hufschlag, die Vorhut hatte das Lager verlassen und näherte sich dem Platz. In Viererreihen zogen die Truppen an den Menschen vorüber, die zum Straßenrand drängten, um das Schauspiel zu begaffen, und nur die Oberkörper der Reiter überragten die Menge.
Eine Hand legte sich auf Thiudgifs Arm. »Wir bleiben hier«, hörte sie Amra sagen. »Wir machen uns nicht gemein mit denen, die sich am Weg drängeln.«
Thiudgif antwortete mit einem dünnen Lächeln, eine andere Antwort fiel ihr nicht ein. Dann zupfte Amra am Ärmel ihres Kittels, der
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