Varus - Historischer Roman
Ohr an ihrem Mund und begann zu summen, eine Weise aus längst vergangenen Tagen, ein Lied, das von blühenden Wiesen und warmem Sonnenlicht erzählte, als könnte sie damit das Getöse zum Schweigen bringen. Sie spürte, dass das Mädchen an ihrer Seite schlotterte wie trocknende Wäsche im Sommerwind, und summte,
bis ein Vorhang zwischen sie und das Kampfgetümmel zu fallen schien.
Sie waren eingeklemmt zwischen dem Pferdeleib und einem Toten, die ihnen Deckung boten. Vorsichtig drehte Thiudgif sich um, lugte unter dem Mantel hervor, sah die Lederstreifen eines Waffenrocks und die Lederhose eines Reiters, die durchdringend nach Urin roch. Sie hatte den Hintern eines römischen Reiters vor sich, eines gefallenen römischen Reiters. Obwohl sie diesen Soldaten nicht einmal kannte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und ihr Hals schwoll zu. Wie durch einen Schleier sah sie das Getümmel wenige Schritte entfernt, die nackten Rücken der Angreifer, ihr langes, zusammengebundenes Haar. Sie wusste, dass diese Männer sie töten würden, wenn sie sie entdeckten. Wie gelähmt starrte sie auf die Krieger, die brüllend ihre Spieße und Keulen schwangen. Vielleicht sogar Krieger ihres eigenen Volkes.
Etwas glitt über das Manteltuch, dass ihr Herz einen Satz machte, und rollte weiter, bis der Körper des Toten es zum Stillstand brachte. Thiudgif tastete danach, fühlte eine dünne Stange. Ein Wurfspieß. Am Sattel des Pferdes befand sich ein Köcher mit Spießen.
Das Gefecht entfernte sich. Sura war still geworden, schluchzte nur leise. Thiudgif äugte über den Toten hinweg nach den Kämpfenden, sah Bündel, aus denen Spieße ragten, blickte in schreckstarre Gesichter, bevor sie begriff, dass es Tote waren. Geduckt stemmte sie sich auf die Knie, spürte erst jetzt die kalte Nässe, die ihre Kleidung durch und durch tränkte. Der Kampf tobte in einiger Entfernung, es hätte laut sein müssen, aber ihre Ohren waren wie taub, klingelten schrill, dass sie die Finger dagegen drückte, bis ein wogendes Rauschen alles übertönte.
Sie drehte sich um und sah den Köcher, sechs Wurfspie ße darin. Mit dem, der neben ihr lag, sieben. Sie schob den Dolch in die Scheide an ihrem Gürtel, griff über den Rücken des Pferdes nach dem Riemen, nestelte den Knoten auf. Flink hob sie den Köcher aus der Halterung, nahm das Band, an dem man ihn über die Schulter hängen konnte.
»Weiber! Da sind Weiber!«
Ihre Sprache. Thiudgif erstarrte. Irgendwo hinter ihr stand mindestens einer der Angreifer. Ihre Faust umklammerte einen der Spieße. Schwere Schritte näherten sich.
Etwas pfiff durch die Luft, schlug hart auf. Thiudgif hörte ein Stöhnen, blickte auf und erkannte Amra, die eine Steinschleuder hielt. Thiudgif hörte einen Aufprall und drehte sich um. Ein weiteres menschliches Bündel lag unweit von ihr auf dem Boden.
»Niemand bedroht meine Tochter oder den, der sie beschützt!«, fauchte Amra.
Thiudgif legte den Köcher um und sprang auf. Amra, die näher gekommen war, half ihrer Tochter auf die Beine, umarmte sie, brachte das wimmernde Mädchen zum Schweigen. Schneller Hufschlag donnerte heran.
»Wir müssen weg!«, rief Thiudgif.
»Das sind unsere Soldaten!«, entgegnete Amra. »Sie holen uns hier raus.«
»Woher willst du das wissen?«
Ein fernes schnappendes Geräusch, dann Zischen - Bogenschützen! Die Frauen befanden sich zwischen den Kämpfenden.
»Wir müssen weg!«
Sie packte Amras Mantel und rannte in die einzige Richtung, die ihr einfiel, durch das zertrampelte Unterholz in den Wald hinauf, wo sie sich duckten. Ein Pfeilregen ging über
dem Weg nieder, als die Reiter eintrafen. Ein Pferd brach auf der Vorderhand ein und warf den Reiter ab, sein Schild polterte vor ihnen auf den Boden. Ein Teil der Truppe kam zum Stillstand. Der Mann war unter dem Pferdekörper eingeklemmt und stemmte sich stöhnend gegen die Last, ein anderer war abgesprungen, zerrte am Arm des Gestürzten, ein dritter versuchte, den Pferdekörper zu bewegen.
Wieder dröhnte der Chor vieler Stimmen auf, diesmal aus dem lichten Sumpfwald jenseits des Weges. Von dort stürmten weitere Angreifer heran. Barsche Schreie ertönten, Befehle. Die Reiter stellten sich zu einer Wand auf, verdeckten die Sicht. Hastig warfen Thiudgif, Amra und Sura sich flach auf den Waldboden, gruben sich im modrigen Vorjahreslaub ein. Ein süßlicher Geruch umhüllte sie. Thiudgif tastete nach dem Lederbeutel mit den versiegelten Wachstafeln, die sie am Leib trug. Ein
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