Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
sich nicht von der Stelle zu rühren, während kilometerweit Felder und Nebel an dir vorüberziehen.
Es wäre schön, zu Hause zu sein. Aber es wäre auch schön, nie dorthin zurückkehren zu müssen.
Hinter Parma knallt der Himmel gegen die Berge, und der Nebel wird dunkler. In den Tunneln hört der Regen auf, du gönnst den Scheibenwischern eine Pause. Seit zwei Stunden springen sie hin und her, um die Tropfen einzufangen, aber kaum sind sie an der einen Seite angekommen, landen hinter ihnen schon wieder neue.
Dir geht es wie diesen Scheibenwischern, Furio Guerri: verdammt zu einem sinnlosen Hin und Her, nur um auf irgendeine Weise nützlich zu sein.
Um Punkt sechs klingelt dein Handy wieder, kurz hinter dem Schild, das die Ausfahrt zur Versilia ankündigt.
Magnanis Stimme ist so leise, dass du sie erst gar nicht erkennst.
»Hallo. Alles klar, Edo?«
»Wo bist du?«
»Kurz vor Pisa, ich komme gerade aus Mailand.«
»Hör mal, Furio, ich habe ein Problem. Mit dem Auto.«
Er fügt hinzu, dass er keinen Schaden habe, ihm sei nur ein kleines Missgeschick passiert: Er sei rückwärts in einen Graben gerutscht, und nun würden die Reifen durchdrehen. Ob du vielleicht kommen könntest, er habe ein Seil im Kofferraum, das würde höchstens zehn Minuten dauern.
Irgendetwas erscheint dir komisch. Magnani ist das typische Automobilclub-Mitglied und würde sein Gefährt noch gegen Schäden durch Vogelkacke versichern, wenn das möglich wäre.
»Wo genau bist du denn, Edoardo?«
Er beschreibt einen ganz bestimmten Abschnitt der Via Aurelia, und du wirst dich hüten nachzufragen, wie er denn in dieser Gegend gelandet ist. Klare Sache, er hat sich an dich gewandt, weil die Angelegenheit keine offiziellen Spuren hinterlassen soll.
Ihr seid weltläufige Männer, ihr seid Kollegen. Und ihr seid Verbündete, wenigstens was die Außenwelt und die Konkurrenz angeht.
Die Via Aurelia bist du tausendfach gefahren. Auf der parallel verlaufenden Schnellstraße und dem ersten Stück hinter dem Landgut von San Rossore fristen die letzten italienischen Prostituierten in Wohnwagen ihr Dasein. Durch das angrenzende Wäldchen führt ein von Sicherheitslampen beleuchteter Trampelpfad: Hier schlagen die Nigerianerinnen ihr Nachtlager auf. Zwischen dem Gebäude von Saint-Gobain und der Autobahnauffahrt des Flughafens Pisa stehen gewöhnlich die Slawinnen. Junge Mädchen, die sich im Dunkeln unter den Dächern der Tankstellen drängeln wie Insekten um eine Glühlampe.
Auf dem Abschnitt zwischen der letzten Tankstelle und Coltano aber läuft man Gefahr, zwei Meter großen Geschöpfen in Pelzmantel und Lendenschurz zu begegnen. Die Transen stürmen regelrecht auf die Straße, und du hast gerade noch Zeit, zu bremsen und auszuweichen, wenn das Licht deiner Scheinwerfer auf zwei Silikonmöpse fällt.
Auf seine Art war der große Edo Magnani sogar ehrlich: keine drallen Mädels aus der Moldau, kein Striplokal. Du zögerst einen Moment, denn im Grunde tut er dir leid, aber dann sagst du dir, dass es nicht deine Schuld ist. Die Welt um dich herum steht Kopf. Italienische Zeitschriften werden in Hongkong gedruckt, und achtbare Kollegen mieten sich einen Schwanz aus Rio de Janeiro. Das alles macht überhaupt keinen Sinn. Nicht du bist das Problem.
Du wählst die Nummer deiner Firma und erkundigst dich in der Zentrale, ob in der Gegend von Pisa ein Lieferwagen von Aggradi unterwegs sei. Das Auto des großen Edo Magnani müsse aus einem Graben gezogen werden. Des legendären Vertreters, deines Mentors, deines Lehrers.
Der flinke Motor deines Spiders habe nicht genug PS , erklärst du.
»Ja genau, zwischen Pisa und Coltano, auf einer Nebenstraße der Aurelia«, erklärst du der Sekretärin.
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I ch warte auf das Foto von Shaina und weiß nicht, wie ich es anstellen soll, ruhig zu bleiben.
Ich könnte mich ablenken, indem ich den E-Mail-Verkehr zwischen Laura und ihrem Ex lese. Ich könnte mir ihre Urlaubsfotos ansehen oder ihre Gehaltsabrechnungen. Ich könnte die Kontoauszüge ihrer Kreditkarte durchforsten oder gucken, ob sie Internetseiten besucht, die Sextoys und anderen Schweinkram anbieten.
Die Festplatte eines Menschen zu kopieren, ist, als würde man in seiner Abwesenheit in seine Wohnung eindringen, sein Lieblingsalbum auflegen, in den Korb mit der Schmutzwäsche schauen und vielleicht sogar in den Tresor. Aber das Einzige, was mich wirklich interessiert, befindet sich im Ordner »Dokumente«, Schuljahr 2009–2010. Dutzende von
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