Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
war.
Sie hatte das Inferno erlebt.
Etwas, das niemand aushalten konnte.
Angela Lenz hatte es ausgehalten. Sie hatte es ausgehalten, indem sie sich aufspaltete in Dutzende von Einzelpersönlichkeiten. Sie dissoziierte, trennte Sein und Bewusstsein voneinander, Empfindung von Wahrnehmung und Erinnerung. Und auch dieErinnerung selbst hatte sie kaleidoskopartig aufgesplittert in winzige Stückchen, Erlebnisbruchstücke, die im Einzelnen gerade eben noch erträglich waren.
Das Unerträgliche zu dissoziieren und möglichst unerreichbar im Inneren abzulegen, ist eine Fähigkeit, über die die menschliche Psyche verfügt.
Dissoziieren können fast alle Menschen. Allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Dissoziation als Alltagsstrategie des Bewusstseins zum Beispiel im Kino: Links und rechts riecht und raschelt alles nach Popcorn, dennoch versinkt man völlig in der Handlung eines spannenden Films. Oder: Ringsherum dröhnt eine hektische Technoparty, trotzdem konzentriert man sich auf ein interessantes Gespräch.
Dissoziation sozusagen als Krisenintervention tritt auf, wenn Schwerverletzte nach einem Verkehrsunfall aufstehen und die Unfallstelle sichern. Sie stehen unter Schock und haben die Schmerzen abgespalten – dissoziiert. Später, nach diesem traumatischen Erlebnis, können sich viele überhaupt nicht mehr an die Einzelheiten des Unfalls erinnern.
Die Fähigkeit zu dissoziieren kann sogar das Leben retten, wenn das Erlebte so grauenvoll ist, dass man verrückt werden oder sterben würde, müsste man es bei vollem Bewusstsein ertragen.
Ausführliche Untersuchungen 10 zu Traumatisierungen von Soldaten im Ersten Weltkrieg, im Vietnamkrieg, bei KZ-Opfern, Folteropfern und vergewaltigten Frauen belegen es: Menschen dissoziieren, was sie nicht aushalten können.
Keine von Angela Lenzʼ Persönlichkeiten hätte die gesamte Gewalt ertragen können, die Menschen ihrem Körper und ihrer Seele angetan hatten. Jede hatte gerade eben so viel mitgemacht, wie sie durchstehen konnte. Dann war sie wieder verschwunden, in irgendeiner geheimen Nische von Angelas Seele. Und eine andere war an ihre Stelle getreten, hatte das nächste Stück Horror mitgemacht und konnte sich auch später nur an ebendiesenAbschnitt der Hölle erinnern. Und so war es immer weitergegangen, Angelas ganze grauenvolle Kindheit und Jugend hindurch.
Wie eine lange traurige, stumme Menschenkette kamen Nina die Persönlichkeiten von Angela manchmal vor. Wesen, die eines nach dem anderen, gebeugt, ergeben und hoffnungslos in das Inferno marschiert waren.
Angela hatte es ausgehalten.
Und Nina Temberg war entschlossen, es ebenfalls auszuhalten. Wenn keiner es aushielt, sie würde es aushalten. Dies war ihre Aufgabe. Dieser Klientin, die eines Tages, vor gut einem Jahr, in ihre Praxis gekommen war, völlig verwirrt nach einem Selbstmordversuch und mit der vagen Erinnerung, dass sie sexuell missbraucht worden war, der würde sie beistehen.
Schon die erste Begegnung hatte darüber entschieden.
Fassungslos hatte Angela Lenz berichtet, wie sie sich selbst plötzlich wiedergefunden hatte, ihren weinenden Sohn im Arm, mitten auf den Bahngleisen stehend und dem Intercity so nah, dass sie ganz deutlich das entsetzte Gesicht des Zugführers sehen konnte. Im buchstäblich letzten Moment hatte jemand sie von den Gleisen heruntergeschubst. Aber als sie sich umsah, sei niemand da gewesen. Auch hätte sie sich nicht daran erinnern können, wie sie eigentlich auf den Bahndamm gekommen sei. Sie hätte überhaupt nicht die Absicht gehabt sich umzubringen. Und ihren kleinen Sohn erst recht nicht. Aber sie gab auch zu, dass sie manchmal Dinge tat, die sie nicht plante und auch nicht wollte. Dass sie trotzdem irgendwie geschahen. Dass es einiges gab, was sie nicht wusste, obwohl sie es eigentlich wissen müsste.
Zum Beispiel fast ihre gesamte Kindheitsgeschichte.
Als dann die ersten Bruchstücke von Gewalt und Misshandlung in Angela Lenzʼ Erinnerung auftauchten, stand für Nina Temberg fest, dass sie die Geschichte dieser Frau, dieser Kindheit ertragen würde. Einer musste es tun. Und dieser eine würde eben sie sein.
Koste es, was es wolle, hatte sie gedacht. Damals, als sie noch nicht ahnte, was die Kosten sein würden.
Ninas Entschluss hatte etwas Dramatisches an sich, und nicht wenige Kolleginnen waren beunruhigt über die Rückhaltlosigkeit, mit der Nina die Klientin annahm. Hatte sie gar keine Zweifel an deren Geschichte? War es nicht alles viel zu dramatisch, was
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