Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Vertrauen gefasst. Eines Tages traf die Lehrerin mit ihren Nachfragen bei Angela den richtigen Ton. Angela gab etwas preis. Sehr wenig. Mit knappen Worten: Der Vater tut etwas, was er nicht darf. Die Lehrerin ist schockiert: Anfang der siebziger Jahre ist sexueller Missbrauch ein Tabuthema. Erst gut zehn Jahre später werden die ersten »Wildwasser«-Selbsthilfegruppen 33 gegründet, in denen sich Frauen zusammenschließen, die in der Kindheit sexuell misshandelt worden sind. Erst dann erscheinen in Deutschland die Bücher von Alice Miller, 34 Florence Rush, 35 Angelika Gardiner-Sirtl. 36 Erst dann veröffentlicht die Medizinerin Professor Elisabeth Trube-Becker ihre bahnbrechenden Untersuchungen über die Folgen sexueller Gewalt an Kindern. 37 Erst 1985 machte der WHO-Kongress »Battered Children and Child Abuse« das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern international zum Thema.
Obwohl die Lehrerin Angelas Worten kaum glauben konnte, begriff sie, dass sie einen Hilferuf gehört hatte, und handelte: Sie überwand ihre eigenen Schamgefühle und rief Angelas Eltern an. Der Vater reagierte scheinbar gelassen und schob alles auf die lebhafte Phantasie der Tochter. Die Mutter suchte mit ihrer Tochter eine Erziehungsberatungsstelle auf.
Mehr geschah nicht.
Scheinbar.
1971
Lt. William Calley wegen Mordes (My Lai Massaker) verurteilt
Willy Brandt erhält den Friedensnobelpreis
Apollo 14 + 15 landen auf dem Mond
Frauen demonstrieren gegen § 218
Charles Manson wegen Ritualmord zu »lebenslänglich Zuchthaus« verurteilt
Im Kino: »Love Story«, im Fernsehen: »Wünsch dir was«
Hitparade: Heintjes »Mama«
Die verpasste Chance
Evelyn Keller legte die Hände in den Nacken, klemmte die Füße hinter die Stuhlbeine, kippelte ein wenig, reckte sich, seufzte leise und fühlte sich wohl. Freitagmittag und Feierabend in Sicht.
»Erdnussflips, Coca und Salzstangen muss ich noch holen, Klavier und Geige hab ich schon«, murmelte sie leise ihre Einkaufsliste vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu ihrer Kollegin, die vornübergebeugt am selben Tisch im Lehrerzimmer hockte. Nicht leise genug: Friederike Diehl blickte sofort auf, hoffnungsfroh lächelnd, dankbar für jede Ablenkung. »Klavier und Geige« hieß Bier und Korn und bedeutete ein flottes Junglehrer-Treffen am selben Abend bei Evelyn. Und das war um so vieles erfreulicher als der Stapel Hefte, der sich vor Friederike auf jenem abgegriffenen Holzmöbel türmte, dessen Hässlichkeit durch nichts besser zur Geltung gebracht werden könnte als durch die blassrosa Deckchen mit Rhombenmuster, die diagonal und zu kurz über ihm und den sieben anderen Tischen des Lehrerzimmers lagen.
»Wie gehabt«, hatte Evelyn spontan enttäuscht gedacht, damals, vor einem Jahr, als sie voller Freude über ihre erste Stelle als junge Lehrerin, über ihre erste eigene Klasse, zum ersten Mal über die Messingschwelle hinweg das Lehrerzimmer betrat, dessen Anblick und Geruch automatisch Legionen alter Ängste mobilisierten und nach Fluchtwegen Ausschau halten ließen.
Eine Weile noch blickte Friederike Diehl erwartungsvoll lächelnd zu ihrer Kollegin hoch, aber die war verstummt, in Gedanken schon weitergewandert zum Rest des Wochenendes, den sie mit ihrem Freund verbringen wollte. Als gar nichts mehr kam, senkte Friederike den Blick schließlich wieder auf ihre Hefte, und diese senkten sich in ihr Gewissen. Sie senkte den Blick ungern und etwas verdrossen auf den Stapel vor sich, denn in dieser Pause hatte sie endlich die Rechenarbeit ihrer Vierten fertigkorrigieren wollen, würde es aber nicht schaffen. Wieder nicht. Die ungetane Arbeit würde Friederikes Wochenende verderben, sich zäh und lähmend über die schönsten Tage der Woche legen, bissie sich schließlich am Sonntagabend durch den ganzen verhassten Packen quälen würde, während alle anderen den neuen Tatort im Fernsehen anschauen konnten.
Evelyn Keller wusste das. Zur Genüge, denn bei ihr jammerte sich Friederike Diehl ständig aus über ihre unbegabte, ungehorsame Vierte. Dass sie laut waren, kriegte das gesamte Kollegium mit, niemand, der in einer Freistunde am Klassenraum vorbeiging, konnte es überhören. Dass sich zwei neulich brutal geprügelt hatten, bis der eine mit blutender Nase heulend in der Ecke hockte, und ein anderer seine Schulmappe quer durch die Klasse geschleudert hatte, als Friederike den Raum betrat, musste sie sogar dem Rektor melden. Der war gekommen und hatte die Klasse zur Raison gebracht.
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