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Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)

Titel: Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Fröhling
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klar und kühl: »Nein.«
    Die ganze Klasse prustete los.
    Mit einem bewährten pädagogischen Trick lenkte Evelyn Keller die Aufmerksamkeit der Klasse in eine andere Richtung: Sie ließ den lautesten Lacher die Frage beantworten.
    Dann begann sie vorzulesen: »Es war einmal eine kleine verlorene Insel in den englischen Kolonien, dort, wo es warmund immer Sommer ist. Die kleine Insel lag ganz nah bei einer großen. Wenn man auf der großen Insel stand, konnte man die kleine nicht sehen; viele Bäume versperrten die Sicht. Aber vom Meer aus konnte man sie auch nicht finden, denn da sah sie aus, als ob sie ein Teil der großen wäre. Aber da war sie, die kleine Insel.«
    Evelyn Keller las mit großem Vergnügen vor. Am liebsten Geschichten, die ihr schon seit der Kindheit vertraut waren. Das Lesen ging dann fast automatisch, und sie konnte dabei vom Wochenende träumen, an dem sie ihrem Freund Spaghetti nach einem italienischen Rezept kochen wollte, das sie gerade in der »Constanze« entdeckt hatte. Dazu sollte es grünen Salat und Rotwein geben.
    Der anschließenden genüsslichen Rangelei auf ihrer Ausziehcouch würden die üblichen Klagen ihres Freundes folgen, darüber, dass er eben nur so weit und nie weiter gehen durfte. Evelyn war 25 und hatte beschlossen, dass sie sich zumindest erst verloben wollte. Aber danach hatte er sie noch gar nicht gefragt. Und sagen wollte sie es auch nicht. Wie konnte sie, in diesen Zeiten der sexuellen Revolution, wo sowieso alle taten, als ob sie es immer schon täten?
    »Eines Tages kam ein Seeräuber zu den Inseln. Er suchte ein gutes Versteck. Denn er wollte eine große Schatzkiste, voll von kostbaren Schätzen, verbergen und vergraben. Plötzlich beim Umschiffen der großen Insel sah er die kleine Insel vor sich. ›Aha!‹, sagte er leise, ›hier will ich meinen Schatz vergraben. Hier wird ihn niemand finden. Niemand wird auf den Gedanken kommen, dass ich ihn auf einer so kleinen Insel verstecke, wo doch eine so große so dicht danebenliegt.‹«
    Während sie von dem Seeräuber und seinen Grabarbeiten auf der kleinen Insel las, machte sie bisweilen eine Pause, um die Spannung zu erhöhen, und ließ dabei den Blick durch die Klasse schweifen. Immer wieder blieb er an Angela hängen, die still an ihrem Platz saß und träumte.
    Was war nur mit dem Mädchen los? Auch die Kolleginnen sprachen über sie. Alle hatten sich anfangs in sie verguckt, weil die Kleine mit ihrem zarten Gesicht, fast weißblonden Haaren und ihrer zierlichen Figur wie ein kleiner Engel wirkte. Und plötzlich tobte sie, schrie und konnte um sich schlagen wie ein Teufel.
    Hin und wieder log sie auch. Sogar ohne Not. Letzte Woche war Friederike Diehl, die in Evelyns Klasse Religion unterrichtete, völlig verblüfft ins Lehrerzimmer gekommen und hatte die neueste Angela-Geschichte erzählt, wie sie diese Episoden inzwischen nannten.
    Als die Hausaufgaben vorgelesen wurden, behauptete das Mädchen, sie hätte vergessen, sie zu machen. Als Nächstes sagte sie plötzlich, sie hätte ganz bestimmt alles gemacht, aber leider gestern Abend vergessen, ihr Heft einzupacken. Friederike hatte – natürlich – geschimpft, sie solle nicht lügen. Darauf war Angela völlig ausgerastet, das sei ihr egal, was Friederike glaube oder nicht. Friederike hatte sie dann in die Ecke gestellt. Und selbst in Angelas Mappe nachgeschaut. Da lag das Heft. Eine Notlüge, dachte sie und war sicher, dass Angela die Hausarbeiten einfach nicht gemacht hatte. Doch da standen sie: sauber, ordentlich und ohne einen einzigen Fehler.
    Es war ein Rätsel.
    Warum hatte das Kind gelogen? Ohne Not. Es hatte doch gar nichts zu verbergen.
    »Da wurde der Seeräuber sehr böse und brüllte vor Zorn«, las Evelyn Keller, machte noch eine Pause, hob die Augen vom Buch und betrachtete Angela einen Moment. Unter diesem freundlichen, besorgten Blick tauchte das Mädchen auf, aus welchen Tiefen auch immer. Die Lehrerin lächelte ihr zu, senkte den Blick und las weiter von dem Seeräuber, der ganz sicher gewesen war, dass er seinen Schatz jederzeit holen konnte, wenn er nur wollte. Dem es aber niemals gelang, die kleine Insel wiederzufinden, so sehr er auch suchte.
    Die Kinder waren ganz still, sie hatte ihre volle Aufmerksamkeit: »So blieb die Schatzkiste – Jahre um Jahre – auf der stillen kleinen Insel, die niemand sah und niemand fand und von der niemand wusste, dass sie überhaupt da war.«
    Wie nett Fräulein Keller ist, dachte das Mädchen. Wie

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