Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
ihr gesagt. Ganz dicht bleibt er immer an ihrer Seite. Schande machen will sie ihm auf keinen Fall. Er soll doch stolz auf sie sein. Bestimmt wird sie es schaffen. Tamara ist frisch und munter und ausgeschlafen. Sie macht alles richtig, nie einen Fehlstart gehabt, nie aus der Bahn geschwommen. Sie denkt nur daran, dass sie gewinnen muss. Ihr tut nichts weh, sie hat keine Sorgen, sie ist total fit. Die blauen Flecken schmerzen nicht, bei ihr sind sie sowieso kaum zu sehen.
Tamara gewinnt. In zwei Disziplinen.
»Ich bin stolz auf dich«, sagt der Vater, so laut, dass die anderen Erwachsenen es hören können. Zufrieden schaut er umher.
Als sie allein sind, sagt er: »Warum hast du im Rückenschwimmen versagt?«
Dann werden alle Gewinnerinnen zusammengerufen. Sie sollen fotografiert werden. Stolz zeigt Tamara ihre Medaille vor.
Sie strahlt. Gern würde sie noch ein bisschen mit den anderen Mädchen reden. Die machen heute irgendwas zusammen. Was, will sie gerade rauskriegen, aber da ruft der Vater schon wieder »Angela!« Nun gut, wird sie heute eben wieder ganz früh schlafen gehen, damit sie morgen genauso fit ist.
Ganz gern würde sie allerdings noch etwas essen, am liebsten Forelle blau mit Petersilienkartoffeln, denn das ist ihr Lieblingsgericht. Als Belohnung. Wo sie doch gesiegt hat. Aber nichts da, kaum hat sie sich umgezogen, ergreift der Papi ihre Hand, und sie treten vors Hotel. Schon ist wieder Stefanie draußen, die nun endlich ihren Stadtbummel machen will – trotz des leichten Nieselregens – und die unbedingt Pommes essen will.
Der Papi winkt eine Taxe heran. Kurz gehen sie dann noch in ein Restaurant. Tamara kriegt überhaupt nichts ab, Stefanie bekommt immerhin ihre Pommes frites, aber aus dem erträumten Stadtbummel wird auch an diesem Abend wieder nichts.
Denn auch an diesem Abend muss der Papi noch dringend einen Besuch machen. In einer anderen Gegend Berlins. Mit Stefanie.
Als sie den Raum betreten, sind wieder viele fremde Männer da. Er ist voller Rauch, lauter Stimmen, merkwürdiger Geräte. Stefanie kann sich gerade noch ganz kurz umschauen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, dann ist sie – unmerklich – schon wieder verschwunden.
Manuela ist da.
Auch Manuela ist ganz neu. Für alle anderen ist diese Umgebung beängstigend, denn sie ist fremd: Scheinwerfer, Hitze, Filmkameras, laute Stimmen, nackte kleine Mädchen und ein älterer Junge, der weint. Alles Fremde war bisher erschreckend oder schmerzhaft. Meistens beides zusammen. Filmaufnahmen haben sie zwar schon öfter erlebt, aber nie in einem richtigen großen Studio.
Wenn eine erschreckende neue Situation auftaucht, reagieren sie so, wie sie es inzwischen am besten können: Sie tauchen nach innen ab. Und wenn es eine traumatisierende neue Situation ist, schaffen sie eine neue Person.
Lieber würden sie weglaufen. Und schreien. Aber das geht nicht.
Das geht nie. Der Papa hält sie fest. Oder die Mutter. Oder ein Fremder. Oder jemand fesselt sie. Oder stopft ihnen etwas in den Mund. Sie können weder rennen noch schreien. Keiner ist da, der sagt: Komm, ich nehme dich in den Arm, ich tue dir nicht weh, ich tröste dich, ich beschütze dich, ich halte dich lieb. Ganz vorsichtig. Nur so, wie du es willst. Und wenn irgendjemand irgendwann mal so etwas Ähnliches gesagt hat und sie haben ihm geglaubt, dann hat er ja doch nur gelogen.
Da tun sie das Einzige, was sie können: Sie laufen nach innen weg. Sie weinen innen. Sie nehmen sich selbst in den Arm. Sarah weiß, dass sie die Zahl der entstehenden Personen so gering wie möglich halten muss. Sie weiß, dass einmal geschaffene Personen hierbleiben, dass sie sich auch weiterhin um sie kümmern, für Betreuung, für Aufsicht sorgen muss. Die Geister, die sie ruft, werden nicht nur diesen einen Abend das Leben der Angela Bahr bevölkern. Deshalb schaut Sarah immer erst einmal nach, wer von den anderen, denen, die ohnehin schon da sind, noch irgendeine Belastung aushalten kann. Nur wenn niemand mehr weiterkann, gibt es neue Personen.
Gestern Mona.
Heute Manuela.
Manuela bekommt ein Bündel Zeug hingeworfen. Das soll sie anziehen. Damit sieht sie in etwa so aus wie gestern Mona. Aber das weiß Manuela nicht. Noch denkt sie, dass sie ganz allein ist. Sie weiß nur, dass sie diese Situation hier irgendwie durchstehen muss, diese Situation, von der sie nicht ahnt, was sie überhaupt bedeutet. Sie weiß nur, dass es scheußlich ist und dass sie sich schämt. Sie weiß noch nicht
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