Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Solange er dort war. Hinterher wurde es umso schlimmer. Seitdem erzählte Friederike ihm nichts mehr. Nur Evelyn erfuhr noch von den Katastrophen.
Wahrscheinlich, dachte Evelyn behaglich, hat Friederike einfach kein Talent zur Lehrerin, und als sie dies dachte, war sie sich augenblicklich ihrer eigenen Begabung bewusst. Sie hatte ihre Dritte prima im Griff und schaffte den Stoff gut. Alle waren lernwillig und artig, und fröhlich waren sie auch. Wie ihre Lehrerin eben.
Evelyn schaute auf die Uhr: Gleich musste es kommen.
»Nun, dann wollen wir mal wieder«, sagte prompt Rektor Kernberg. Während Evelyn und Friederike sich angrinsten, erhob er sich umständlich von seinem Schreibtisch an der Stirnseite des Raumes, wobei sein Stuhl über den Linoleumboden quietschte. Ein Geräusch, das den Kollegen genauso verhasst war wie das Kreischen von Kreide auf Wandtafel ihren Schülern. Auch hier im Lehrerzimmer saß Kernberg am liebsten am Schreibtisch und hatte sich deshalb extra einen eigenen hereinschaffen lassen.
Nach seinen Worten wussten alle Bescheid: Eine Minute noch, dann würde die Schulglocke läuten. Aus unerfindlichen Gründen hatte Rektor Kernberg den Ehrgeiz entwickelt, der Schulglockeum genau eine Minute zuvorzukommen. Mit der Faust klopfte er dreimal auf seinen Schreibtisch – eine Geste, die er aus grauen Vorzeiten einer studentischen Verbindung herübergerettet hatte – und schritt zur Tür.
Das Kollegium – bis auf den Konrektor – grinste. »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«, brummelte Werklehrer Thilo Meinhold den Protestruf der Studentenbewegung, zu der er sich gern zählen würde, hätte er sein Studium nicht schon zehn Jahre vor deren Beginn beendet. Sein Brummeln war akkurat so laut bemessen, dass Evelyn und Friederike es hören konnten, der Konrektor aber nicht.
Man packte die Sachen zusammen, die Ersten verließen den Raum. Die Stimmung war locker, wie immer freitags in der letzten großen Pause.
Nun läutete auch die Schulglocke.
Evelyn Keller stand auf, griff nach ihrer Tasche, und während sie sich wieder aufrichtete, schaute sie bewundernd ihre eigenen Beine hinab: So musste eine Lastexhose sitzen: straff bis zu den Füßen, keine Falte an Knie oder Po. Das gefiel auch Thilo Meinhold, und er hielt ihr die Tür auf.
Eine Stunde noch, dann war Wochenende.
» Freedomʼs just another word for nothing left to lose «, summte Evelyn munter den Janis-Joplin-Song, der gerade die deutsche Hitparade emporkletterte und dort Ennio Morricones »Spiel mir das Lied vom Tod« verdrängte.
Sonnabend würde sie mit ihrem Freund tanzen gehen. Vergnügt eilte sie mit den anderen den langen, kahlen Flur entlang und versuchte das rhythmische Klackern ihrer neuen Stiefeletten dem Song jener Rocksängerin anzupassen, die vor einem halben Jahr an einer Überdosis Heroin gestorben war: »From the Kentucky coalmine to the California sun, Bobby shared the secrets of my soul.«
Eine Stunde in ihrer Dritten, und nur Deutsch, das würde leicht werden. Sie würde ihnen etwas vorlesen und es nacherzählen lassen. Zum Schluss könnte sie sich berichten lassen, was die Kinder am Wochenende vorhatten. Das war immer interessant, manchmal sogar voller Überraschungen.
»So«, sagte sie und schaute fröhlich in die Runde, als das Begrüßungsritual beendet war und fast alle einigermaßen ruhig auf ihren Plätzen saßen, »ich lese euch jetzt eine Sage aus England vor.«
Sie überging die Begeisterungsrufe, »oh, ja, toll, vorlesen!«, und fragte: »Wer weiß, was eine Sage ist?«
»Ja, Angela?«, ermunterte sie das hellblonde Mädchen in der dritten Reihe, das sich bei diesem Wort sofort heftig gemeldet hatte. »Du kannst uns erklären, was eine Sage ist?«
Das Mädchen schwieg.
Ihr schmales Gesicht mit den wachen Augen, die eben noch vor Freude gestrahlt hatten, wurde trübe. Fast bockig sah sie plötzlich aus und schaute aus dem Fenster.
»Angela?«, mahnte Evelyn Keller streng, denn es war nicht das erste Mal, dass die Kleine so merkwürdig reagierte. Träumte sie? Konnte sie sich nicht konzentrieren? Oder wollte sie nur nicht?
»Was?«, fragte das Mädchen vorsichtig und leise.
Heute ist Freitag, dachte Evelyn Keller, die träumt genauso vom Wochenende wie ich.
Und beschloss geduldig zu sein.
»Du hast dich doch eben gemeldet, Angela«, versuchte sie der verwirrten Kleinen auf die Sprünge zu helfen.
Angela schaute auf, direkt in die Augen der Lehrerin, gar nicht verwirrt, und erwiderte
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