Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
einmal, dass der Mann, der dort drüben lächelnd auf der Couch sitzt, ihr Vater ist. Warum lächelt der? Sie kann das nicht verstehen, warum er zuschaut und lächelt, während sie diesen armen heulenden Jungen peitschen muss. Doch irgendwann geht auch diese Nacht vorbei.
Am nächsten Morgen wacht Stefanie auf.
»Was tut weh?«, fragt sie sich. Wie so oft. Fast alles tut weh. Wie gerädert fühlt sie sich. Vorsichtig zieht sie die Bettdecke von den Beinen. Neue blaue Flecken. Und alles ist ganz verklebt. Leise, auf Zehenspitzen schleicht sie ins Bad. Damit der Papi nichts merkt. Er schläft noch. Weil sie so feine Leute sind, mietet er zwar immer zwei Zimmer. Aber natürlich schläft er bei ihr. Damit sie sich nicht fürchten muss, wenn sie ganz allein ist. Sagt er. Das ist nett von ihm.
Der liebe Papi.
Leise wäscht Stefanie sich und zieht sich an.
Nach dem Frühstück steht wieder Tamara im Schwimmbad am Beckenrand.
»Mach mir keine Schande«, sagt der Papi.
Frisch, munter und ausgeschlafen holt Tamara sich die nächste Medaille. So kann der Papi wieder stolz auf sie sein und die anderen Leute mit diesem überlegenen Blick anschauen. Dann freut sich Tamara sehr, dass sie dies für ihn tun konnte.
Am Sonntag fliegen sie zurück. Ganz entspannt sitzt der Papi neben ihr, und Stefanie darf aus dem Fenster gucken. Heute muss nichts transportiert werden – also keine Aufgabe für Conny. Er hockt irgendwo im Inneren, tief unten im schwarzen Loch der Unbewussten, wo es keine Zeit gibt und keine Pflichten.
So kommt es, dass Stefanie zum ersten Mal bewusst in einem Flugzeug sitzt. Denn genau dieses Gefühl hat sie jetzt: dass sie zum allerersten Mal fliegt. Ein völlig neues Gefühl. Aufregend. Toll. Dabei weiß sie doch ganz genau, dass sie vor fünf Tagen auch schon nach Berlin hingeflogen ist.
Sie war ja da. Also muss sie auch hingekommen sein. Schon komisch.
Aber egal.
»Wenigstens haben wir nicht solche grässlichen Sturmböen wie beim Hinflug«, sagt der Papi, bevor er sich weiter daranmacht, am Imbiss herumzunörgeln.
Ach so, denkt Stefanie. Und sie weiß nun, zu Hause kann sie allen erzählen, auf dem Hinflug hatten wir Sturmböen, auf dem Rückflug aber nicht.
So ergänzt und glättet sie gewohnheitsmäßig ihre Wirklichkeit, meist ohne es selbst zu bemerken.
Zu Hause sitzt die Mutter bei Bernkastler Riesling vor dem Fernseher und will auf keinen Fall gestört werden. Tränen der Rührung laufen ihr die Wangen herunter. Sie sieht einen Spielfilm inder ARD, »Der Scheingemahl« von Hedwig Courts-Mahler mit der süßen Sabine Sinjen in der Hauptrolle.
Wunderschön.
Eigentlich hatte sie auch für gestern einen gemütlichen Fernsehabend geplant, endlich Mann und Tochter aus dem Haus, so dass man seine Ruhe hat. »Schloss des Schreckens« war angekündigt, nach einem Roman von Henry James. Das klang verheißungsvoll, ein bisschen gruselig und genauso romantisch wie der Courts-Mahler-Film. Aber die Geschichte über zwei verrückte Geschwister und ihre überspannte Gouvernante war ihr mittendrin dann plötzlich zu blöd geworden. Verärgert hatte sie abgestellt, ein paar Beruhigungstabletten genommen und sich schlafen gelegt.
»Ich hab drei Medaillen gewonnen«, sagt Tamara zu ihrer Mutter und strahlt.
»Ich hab schreckliche Migräne«, sagt die Mutter, »hol mir eine Kopfschmerztablette. Und stör mich nicht, ich will den Film zu Ende sehen.«
Hinter dem Rücken der Mutter ziehen Stefanie und der Vater eine Grimasse und lächeln sich verschwörerisch zu.
Hauptsache, sie haben sich lieb.
DIE ERSTE ZEUGIN:
DIE LEHRERIN
D as gespaltene Kind war für die Täter in vieler Hinsicht praktisch. Das Überleben in gespaltenen Welten aber wurde für Angela immer komplizierter. Daher konnte es nicht ausbleiben, dass auch anderen etwas auffiel. Kleine Unstimmigkeiten zuerst, Widersprüche, scheinbare Lügen, Unregelmäßigkeiten im Aussehen. Eine eigenartige Sprache. Ein widersprüchliches Kind, das häufig träumte, morgens verängstigt war und mittags rotzfrech. Falls die Menschen in Angelas Umgebung aufmerksam genug waren, konnten sie hin und wieder auch Verletzungen bemerken.
Sie alle sahen etwas und wurden dadurch zu Zeugen.
Was fingen sie mit ihrem Wissen an?
Manche fühlten sich nicht zuständig: die Ärzte.
Manche sahen weg: die Kindergärtnerin.
Manche machten mit: die Nachbarn.
Manche unternahmen etwas: die Lehrerin.
Zu ihrer Klassenlehrerin hatte Angela – nach gut drei Jahren – allmählich
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